Die Untiefen menschlichen Verhaltens

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Nach dem Tod ihres Vaters und dem Wegzug der Mutter verlässt auch die Ich-Erzählerin New York, um in Den Haag neu anzufangen. In den Händen hält sie lediglich einen Einjahres-Arbeitsvertrag für den renommierten Internationalen Gerichtshof. Sie spricht mehrere Sprachen fließend und arbeitet dort zukünftig als Dolmetscherin. Fremd in der Stadt macht die Protagonistin neue Bekanntschaften. In Jana hat sie eine aufgeschlossene Freundin gefunden, die auch gerne weitere Kontakte vermittelt. Adriaan heißt der neue Freund der Protagonistin. Er ist aber noch verheiratet und hat zwei Kinder, die in Portugal bei der Noch-Ehefrau leben. Als Adriaan dorthin aufbricht, um „verschiedene Dinge zu regeln“ und sich anschließend wochenlang nicht meldet, beginnt für die Erzählerin nicht nur privat sondern auch beruflich eine intensive Zeit, in der sie sich über viele grundlegende Fragen ihres Lebens und ihrer Zukunft klar werden muss.

Was den Roman auszeichnet, sind die messerscharfen Gedanken der Protagonistin. Sie ist eine exzellente Beobachterin mit ausgezeichneter Menschenkenntnis und großer Empathie. Sie kann Details ihrer Umgebung sowie ihre diesbezüglichen Betrachtungen ausnehmend präzise in Worte kleiden, so dass man ihr höchst interessiert folgt. Sie sieht nicht nur die Oberfläche, sondern bemüht sich stets, hinter die Fassade zu blicken und Facetten zu entschlüsseln, um den wahren Charakter ihres Gegenübers zu erkennen. Diese Fähigkeiten wirken sich natürlich positiv auf ihren Beruf aus, wo es zu ihren Aufgaben gehört, Zeugenaussagen ins Französische zu übersetzen. Die Komplexität und die Fallstricke guter Übersetzungsarbeit werden dabei anregend geschildert: „Sprachliche Genauigkeit allein reicht nicht. Das Dolmetschen ist eine sehr subtile Angelegenheit, nicht umsonst ist der englische Begriff dafür ‚interpretation‘ – so wie Schauspieler eine Rolle Interpretieren oder Musiker ein Musikstück.“ (S. 20)

Als die Protagonistin in einem großen, aufsehenerregenden Prozess die Worte eines westafrikanischen Ex-Präsidenten übersetzen muss, dem zahlreiche Verbrechen gegen die Menschlichkeit zur Last gelegt werden, kommt sie nicht nur emotional an ihre Grenzen. Zusammen mit ihr lernen wir das komplexe Procedere eines internationalen Strafprozesses und seiner Akteure kennen. Dort geht es um (Selbst-)Inszenierung, Manipulation, Täuschung, Strategie, Verleumdung, wandelbare Identitäten, Beweisführung und am Ende um einen Richterspruch, der nicht unbedingt mit einem Rechtspruch gleichzusetzen ist. „…-die Verhandlung bewegt sich mal zur einen, mal zur anderen Seite, die Erzählung ändert sich, auf die Erinnerung ist kein Verlass. Ein Vorteil kann am Ende nur allzu leicht bei der Seite liegen, die in der letzten Stunde die Oberhand gewinnt.“ (S. 114)

Der Roman entwickelt einen fesselnden, gleichmäßigen Fluss, ohne konkrete Spannungsbögen zu besitzen. Die eindringliche, höchst elegante Sprache legt die tiefgründige Innenwelt der Protagonistin dar. Wir durchleben gemeinsam mit ihr die Tage, teilen ihre Empfindungen bei der Betrachtung von Architektur, Gemälden oder Menschen. Wir partizipieren an der von ihr empfundenen Intimität in verschiedenen Situationen. Wir leiden und lieben mit ihr - und wahren doch immer wohltuende Distanz. Es lohnt, sich auf die Erzählerin einzulassen, ihren intelligenten sowie tiefgründigen Anschauungen zu folgen, weil sie absolut ehrlich, bodenständig und unprätentiös wirkt.

Die verschiedenen Handlungsfäden laufen zunehmend ineinander, ohne am Ende ein völliges Ganzes zu ergeben. Dadurch wirkt der Roman in keiner Weise konstruiert, obwohl er zweifellos perfekt durchkomponiert wurde. Die Figurenzeichnung ist wunderbar authentisch und frei von Klischees. Der Handlungsschauplatz originell. Man lernt das Böse, Undurchdringliche bei der Suche nach der Wahrheit kennen und darf noch etwas dazulernen.

Der versierte Sprachfluss ist ein großes Plus, ein Kompliment an die tolle Übersetzung von Kathrin Razum. Ich kann darüber hinaus nicht recht begründen, was genau die Faszination für mich ausgemacht hat. Tatsache ist jedoch, dass ich diesen ruhigen Roman gar nicht aus der Hand legen wollte. Ich bin der Ich-Erzählerin gern auf ihren Wegen gefolgt, habe ihr Glück und eine neue Heimat gewünscht.

Den Roman empfinde ich als höchst intensives Leseerlebnis und gebe eine uneingeschränkte Lese-Empfehlung für alle Leser, die intensive Lesemomente lieben und nicht unbedingt auf Spannung im engen Sinn angewiesen sind.