Intimitäten?

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mike nelson Avatar

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Der Titel des Romans "Intimitäten" war mir zunächst ei Rätsel. Es geht schon auch um Beziehung, so lernt die Ich-Erzählerin nach ihrem Umzug von New York nach Den Haag - um dort am Internationalen Gerichtshof als Dolmetscherin zu arbeiten - zwar Adriaan kennen und auch lieben... aber für den Großteil der Geschichte ist Adriaan abwesend, nämlich für Wochen verreist nach Portugal, um dort mit seiner Frau die Trennung zu besprechen. Also muss es andere Formen von Intimität geben. Und da sind die übergriffigen Männer - der wegen seiner Verbrechen an die Menschheit angeklagte, afrikanische Staatspräsident und sein Stafverteidiger, die der Erzählerin mit Blicken und Manipulationsversuchen zu nahe kommen; da ist aber vor allem der intime Einblick in die Erlebenswelt der Erzählerin, mit ihrer Sehnsucht nach dem sicheren Hafen, einer Heimat in sich selbst und in der zwischenmenschlichen Beziehung ("Jede Form von Sicherheit kann sich völlig unvermittelt in Luft auflösen."), mit ihrem Bedürfnis, die Weltgeschehnisse zu begreifen und sich die Frage beantworten zu können, ob sie selbst für diese Welt (ihren Job) geeignet sei: "Ich versuchte schon lange, die Dinge in Beziehung zu setzen, ein großes Ganzes zu erkennen." Die Ich-Erzählerin bewegt sich im Spannungsfeld zwischen Weltpolitik und Privatem, Gewalt, Macht und Manipulation und der Banalität des Alltags. Genau dieses Spannungsfeld schärft die Wahrnehmung der Erzählerin und lässt sie zweifeln: "... um in dieser Welt bestehen zu können, müssen wir vergessen und tun es auch, wir leben in einem Zustand des 'Ich weiß es, aber ich weiß es nicht'."
Tatsächlich ein Buch wie ein Sog - man darf sich zwar hinein-, aber bitte nicht hinabziehen lassen. Unbedingt lesen!