"Intimitäten" - ein erstaunlich vielschichtig, philosophischer Roman über das Leben und die Frage nach Gerechtigkeit

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herrfabel Avatar

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Was ist Intimität? Laut Wikipedia wäre es es "ein Zustand tiefster Vertrautheit". Ein Zustand der sich auf Menschen, Situationen, manchmal sogar auf die eigenen Gedanken beschränken kann. Doch vielleicht ist es irgendwie auch nur so eine Art Gefühl von zwischenmenschlicher Offenheit, Freundschaft und Nähe. Umso länger ich darüber nachdenke, umso schwieriger finde ich es sogar diesen Begriff in Worte zu fassen; ihn zu beschreiben. Intimität ist je nach Mensch vielleicht auch etwas sehr individuelles, sehr großes oder eine Tür zur Verletzlichkeit, die nur selten geöffnet oder von anderen unbewusst eingetreten wird. Doch dass auch Sprache zum Teil Intimität bedeuten kann, ist mir eigentlich erst seit Katie Kitamuras Roman "Intimitäten" klar geworden...

"Sprachliche Genauigkeit reicht nicht. Das Dolmetschen ist eine sehr subtile Angelegenheit, nicht umsonst ist der englische Begriff dafür Interpretation - so wie Schauspieler eine Rolle interpretieren oder Musiker ein Musikstück."

In der Geschichte lernen die Leser*innen eine Dolmetscherin am Internationalen Gerichtshof kennen. Nachdem ihr Vater nach langer Krankheit verstarb, ihre Mutter sich nach Singapur zurückzog, bewarb sie sich eher impulsgesteuert in Den Haag. In New York, wo sie sich um ihren Vater kümmerte, fühlte sie sich einfach nicht mehr wohl oder jetzt endlich frei und so versucht sie sich in den Niederlanden ein neues Leben aufzubauen. Hier lernt sie auch Adriaan kennen, mit dem sie eine Beziehung eingeht. Doch als es ernster wird, reist dieser zu seiner Noch-Ehefrau und den Kindern, und lässt nichts von sich hören. Konnte sie sich so in ihm täuschen?

Auch die Arbeit am internationalen Gerichtshof verlangt ihr einiges ab. Das es hier ein 'anderes' Arbeiten als bei den Vereinten Nationen sein wird, war ihr bereits im Vorfeld klar. "Schließlich befasste sich der Gerichtshof ausschließlich mit Genoziden, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen." Doch in ihrer Funktion als Übersetzerin kommt sie den angeklagten Kriegsverbrechern erstaunlich näher als gedacht. Teilweise sind es gar intime Momente, in denen sie ihnen 1:1 aus ihrer Kabine heraus die Übersetzung ins Ohr spricht oder zur Verständigung zwischen den Verteidigern und dem Angeklagten hinzugerufen wird. Wir verfolgen eben jene intensive Momente, beobachten einen Prozess am Gerichtshof, lernen sie und ihr Handeln, ihr Denken und ihre Aufgewühltheit in den verschiedensten Situationen kennen und kommen vor allem auch der Frage nach der Gerechtigkeit näher.

"Aufgabe der Dolmetschenden war es nicht nur, etwas mitzuteilen oder darzubieten, sondern auch, das Unaussprechliche zu wiederholen. Vielleicht war dies der eigentliche Grund für die Beklemmung, die am Gerichtshof und unter den Dolmetschern zu spüren war. Die Tatsache, dass unsere tägliche Arbeit auf der wiederholten Beschreibung - Beschreibung, Ausführung und detaillierten Schilderung - von Sachverhalten gründete, die außerhalb des Gerichtshofs im Allgemeinen beschönigt oder schlicht nicht benannt wurden."

Des weiteren stellen sich auch immer wieder die Fragen, was Wahrheit und was eine kalkulierte Lüge, Schauspielerei oder was Gerechtigkeit ist. Welchen Einfluss hat der Gerichtshof überhaupt? Kann man internationale Mörder und Verbrecher belangen? Ist es das wert, einem Opfer sein Leid erneut ins Gedächtnis zu rufen? Und wie kann man das ausgesprochene Wort in eine andere Sprache transferieren, ohne das Bedeutungen, der tiefe Schmerz oder die Aggression und Wut verloren geht oder neue Interpretationen hinzukommen? Schon ein Stocken oder ein Zittern in der eigenen Stimme, kann auf die Zuhörer schon ganz anders wirken. Aber kann es einen überhaupt kalt lassen, die Stimme eines Verbrechers oder eines Opfers zu sein? Genau diesen und vielen weiteren Fragen spürt Katie Kitamura in diesem Roman nach, lässt Einblicke in einen nach außen hin sehr verschlossenen Gerichtstrackt zu und schafft es sehr empathisch uns auf eine Protagonistin blicken zu lassen, die zwischen allem steht und zeitgleich selbst nur ein Teil des menschlichen Schauspiels ist.

"Dem Gerichtshof und all seinen Aktivitäten wohnte eine gewisse Spannung inne, die aus dem Widerspruch zwischen der Intimität persönlichen Leids und dessen öffentlicher Zurschaustellung entstand. Ein Gerichtsverfahren war eine wohlkalkulierte komplexe Darbietung, an der wir alle beteiligt waren und aus der sich niemand vollkommen heraushalten konnte."

Egal wie gut man jemanden kennt oder besser gesagt zu kennen glaubt, alles bleibt nur ein Ausschnitt, aus dem unser Gefühl und unsere Gedanken ein vollständiges Bild des jeweils anderen erstellen. Und ob das der Realität entspricht, ob man einem Mörder seine Tat ansieht, Lügen und Beschönigigungen aufdecken kann und ob sich nahestehende Personen wirklich in und auswendig kennen... ist zweifelhaft. Katie Kitamura konfrontiert die Leser*innen ihres Romans mit sehr vielen intimen Situationen, Gedanken und eben auch mit vielen unausgesprochenen Dingen, Zweifeln, Vorurteilen des menschlichen Handelns.
Die Inszenierung einer Aussage am Gericht, die Offenheit eines Partners, von Freunden und Verwandten oder x-beliebigen Menschen, die kurzzeitig unsere Aufmerksamkeit erregen, gefühlt kann man sich nie wirklich sicher sein, ob es echt ist, so passiert ist, eine wirklich tiefere Verbindung besteht oder alles wirklich der Wahrheit entspricht. Manchmal belügen wir uns sogar selbst und versuchen stets andere einzuschätzen, mit unseren Erfahrungen abzugleichen, Unsicherheiten im Auftreten oder der Stimme zu deuten. Intime Momente sind dabei so eine Art Vertrauensbeweis und doch immer nur eine Perspektive und Erkenntnisgewinn.
Und gerade diesen Themenkomplex - das menschliche Handeln und Denken - finde ich wahnsinnig spannend. Kitamura beginnt sich diesem Thema durch die Sprache und dem Ort, von dem nur wenig nach Außen dringt, zu nähern, zieht immer größere Kreise, es kommt zu verschiedenen Begegnungen und alles endet dann doch wieder bei ihrer Protagonistin, die einfach nur irgendwo ankommen und Halt finden mag. Fast schon ruhig, sachlich und neutral erklärt sie dabei die Vorgänge und Schwierigkeiten am Gerichtshof, sowie Grenzen der Gerechtigkeit, die Bedeutung der Übersetzung und Sprache, lässt persönliche Erlebnisse ihrer Erzählerin außerhalb des Hofs mit einfließen und beschreibt sehr empathisch und offen von ihren Gedanken, Gefühlen und Zweifeln. Einen Spannungsbogen sucht man in diesem Roman vergeblich und doch ist es gerade das Ungewisse, das ruhige, professionelle Verhalten und die emotionale, aufgewühlte Kehrseite, sowie die Interaktion auf unterschiedlichsten Eben das, was die Leser*innen durch den Roman treibt. Für mich hätte es gern noch einen größeren Aha-Moment geben können, aber wie im echten Leben, kennt und erlebt man immer nur einen Ausschnitt vom Wesen und Leben des anderen, schreibt seine eigene Geschichte, teilt Fragmente mit anderen und weiß am Ende eigentlich nur selbst, ob man so ist, wie man wirklich ist. Dieser Ausschnitt war toll. Die Bilder, sowie zahlreichen Fragen werden mich sicher noch eine ganze Weile begleiten.