Nähe und Distanz

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bluesjj Avatar

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„Zwischen einzelnen Wörtern, zwischen zwei oder mehr Sprachen konnten sich ohne Vorwarnung Abgründe auftun.“

Intimitäten. Für mich ein Werk voller (gewollter) Widersprüche, die sich im gesamten Spektrum zwischen Nähe und Distanz, Intimität und Fremdheit bewegen. Da hätten wir z.B. die Arbeit der weiblichen Hauptfigur. Als Dolmetscherin am Internationalen Gerichtshof kommt sie den Personen, für die sie übersetzt, auf eine sehr außergewöhnliche Weise sehr nah. Oft flüstert sie ihnen sogar direkt ins Ohr. Trotz dieser Nähe bleibt auf allen anderen Ebenen eine große Distanz zu diesen Personen. Und während sie sich auf das gerade Gesagte konzentriert und es übersetzt, verliert sie sich in dessen Details und kann diese nicht mehr ins große Ganze einordnen, sodass sie am Ende oft nicht einmal wiederholen könnte, was eigentlich gesagt wurde.
Ein Widerspruch findet sich auch in der Hauptfigur an sich. Wir begleiten sie ein paar Monate in ihrem Leben und doch lernen wir sie nicht wirklich kennen. Wir erfahren, was sie denkt, bleiben aber auf Distanz. Auch der Freund und der Freundeskreis waren für mich nicht wirklich greifbar, hinterließen teilweise sogar eher ein ungutes Gefühl. Wie intensiv diese Beziehungen sind, musste ich oft nur erahnen.

Umso länger ich über die 220-Seiten-Werk nachdenke, umso mehr zielgerichtet platzierte Widersprüche fallen mir noch ein. Das ist wirklich sehr raffiniert umgesetzt, birgt aber auch die Gefahr, dass man beim nicht ganz so aufmerksamen Lesen, viele dieser Gegensätze gar nicht wahrnimmt.
Nachhaltig beeindruckt haben mich bei diesem Buch aber vor allem die vielen Schilderungen zur Arbeit eines/er Dolmetscher*in, auch wenn diese teilweise sehr sachlich wiedergegeben werden. Ich hatte mir nie Gedanken darüber gemacht, wie intim der Prozess des Übersetzens ist. Nicht nur, weil es ja bestimmten Personen vorbehalten ist und alle anderen ausschließt, sondern auch, weil der/die Dolmetscher*in alle Nuancen des ursprünglich Gesagten mit in die Übersetzung einfließen lassen muss. Das heißt: Gefühle, Stimmfarbe, Stottern, Pausen, die Auswahl bestimmter Begriffe und Redewendungen… Und das alles nahezu ohne Zeitverlust. Wie wahr das oben genannte Zitat ist und wie komplex und vielschichtig Sprache ist, wird hier besonders deutlich.

Nichtsdestotrotz konnte das Buch meine Erwartungen, die ich aufgrund des Klappentextes hatte, nicht umfänglich erfüllen. Die Kurzbeschreibung des Buches ist nicht falsch, trifft aber meiner Meinung nach den Kern des Buches nicht so wirklich. Dafür dominiert auf vielen unterschiedlichen Ebenen im Buch dann doch zu sehr die Distanz, überwiegt das Ungesagte, bleiben Fragen offen. Die Tiefe und das Zwischenmenschliche rücken in den Hintergrund.