Sprachlich toll, aber zu wenig Spannung

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palatina Avatar

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Die Ich-Erzählerin ist Dolmetscherin und zieht nach Den Haag, weil sie am Internationalen Gerichtshof eine Stelle gefunden hat. Bald findet sie eine Freundin und lernt Adriaan kennen, zu dem sie sich hingezogen fühlt. Dieser befindet sich jedoch in einer „komplizierten“ Ehe und schwankt zwischen Zuwendung und Distanz. Dann verschwindet er nach Lissabon, um etwas mit seiner Ex-Frau zu klären und aus den wenigen Tagen, die er wegbleiben wollte, werden Monate, in denen die Ich-Erzählerin zwar in seiner Wohnung wohnen darf, er sich aber nur sporadisch bei ihr meldet und dann irgendwann gar nicht mehr. Der Versuch, sich in ihrem neuen Leben einzufinden, ist zwar von beruflichem Erfolg gekrönt, aber der ist hart erkauft: Sie übersetzt bei der Gerichtsverhandlung eines Despoten und erkennt, wie dieser versucht, sie zu manipulieren. Auch beginnt sie am System zu zweifeln, als sie erkennt, wie wenig Chancen die Opfer haben, gegen einen mächtigen und reichen Gegner zu ihrem Recht zu kommen. So beginnt sie, am Sinn ihrer Arbeit und am Gaststatus in Adriaans Wohnung zu zweifeln.
Katie Kitamura erzählt sehr intensiv: Sie beschreibt detailliert Situationen und seziert diese sprachlich brillant. Aber das geht zulasten der Spannung und der Identifikation mit der Protagonistin. Man kommt an die Ich-Erzählerin nicht richtig heran. Manches wird angedeutet und bleibt letztlich unaufgelöst. So treffen Adriaan und die Freundin der Erzählerin bei einem Kennlern-Essen aufeinander. Sie flirten miteinander, fast scheint es, als würden sie sich kennen, als sei in den Minuten, die Adriaan früher in der Wohnung der Freundin war, etwas passiert, das nicht hätte passieren sollen. Diese Gefühle schwingen mit, das ist toll erzählt, aber das Ende bleibt lose, wird nie aufgelöst.
Insgesamt sind Cover und Titel stimmig und passend, reihen sich in der Geschichte doch intime Episoden aneinander, dazwischen plätschert das alltägliche Leben. Also alles wie im „wirklichen Leben“. Von einem Roman erwarte ich aber mehr: einen Spannungsbogen, Überraschendes, Wendungen. Davon gibt es in diesem Roman trotz aller sprachlicher Raffinesse zu wenige.