Unterschwellige Bedrohung und Distanz

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Die namenlose Ich-Erzählerin zieht von New York nach Den Haag, um dort am Internationalen Gerichtshof als Dolmetscherin zu arbeiten. Langsam beginnt sie, die sich in New York nicht mehr heimisch gefühlt hat, sich in Den Haag einzuleben. Sie trifft sich mit Jana, mit der sie eine lose Freundschaft verbindet und in dem von seiner Familie getrenntlebenden Adriaan hat sie einen neuen Lebenspartner gefunden. Als sie jedoch anfängt, im Prozess gegen einen Ex-Präsidenten eines westafrikanischen Staates zu dolmetschen und Adriaan für unbestimmte Zeit nach Portugal zu seiner Familie reist, gerät ihr Leben, ihr Angekommen-Sein, Stück für Stück aus den Fugen.
Während des Lesens von ‚Intimitäten‘ hatte ich verschiedenste Gefühle, zwei sind jedoch ganz deutlich hervorgetreten. Zum einen war dies eine unterschwellige Bedrohung, die sich durch das ganze Buch gezogen hat. Die Ich-Erzählerin kommt immer wieder in Kontakt mit Gewalt; zwar indirekt und in Form diverser Personen, aber dieses unterschwellige Gefühl, dass bald etwas Schlimmes passieren wird, ist immer da. Deshalb hat es mich auch überrascht, dass das Ende – obwohl es relativ offen ist – verhältnismäßig positiv ausfällt.
Das zweite deutliche Gefühl war Distanz. Allein schon durch den Erzählstil (der mich übrigens sehr an Rachel Cusk erinnert) wird Distanz zu den Lesenden erzeugt, aber auch die Heimatlosigkeit, das Dolmetschen, bei dem man das Gesagte möglichst nicht zu nah an sich heranlassen und keine Emotionen erkennen lassen darf, die zunehmende Verlorenheit und der Schwebezustand, in dem sich die Erzählerin befindet, tragen zu diesem Gefühl bei.
Was mir an dem Roman besonders gut gefallen hat, sind die präzisen und treffenden Beobachtungen der Ich-Erzählerin, vor allem bezüglich Beziehungen und Lebenssituationen. Sehr interessant fand ich auch die Überlegungen zum Dolmetschen, denn letztendlich entscheiden Dolmetscher und Übersetzerinnen, wie das Gesagte ankommt und interpretiert wird.
„Der Gedanke war beunruhigend – dass unsere Identität so wandelbar war und damit auch der Verlauf unseres Lebens.“ (Seite 102)
Kein Feel-Good-Roman, aber dennoch sehr intensiv und lesenswert!