Ein Carter wie er einem Carter gebührt!

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nahadriel Avatar

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Das Cover fügt sich gut in das bisherige Gros der Reihe ein.

Carter ist ein unfassbar fähiger Autor, der sich in seinen zehn Bänden immer wieder steigert. Diese Steigerung bezieht sich sowohl auf die Brutalität – nein, besser: die Perfidität und Kreativität der Morde - als auch und vor allem (!) spürbar auf das fachliche Können des Autors in seinem Metier.

Stilistisch lehnt sich der vorliegende Band bereits in den ersten Seiten an den ersten Teil der Lucien-Geschichte an. Ich meine damit, daß die anderen Bände der Reihe unmittelbarer mit einer Leiche anfangen, diese beiden jedoch nicht. (Weder das eine noch das andere ist dabei ein Manko.) Auch im späteren Verlauf der Geschichte bleibt diese Anlehnung bestehen: Man folgt dem Mörder ebenso wie dem Detective. Es ist alles insgesamt psychologischer, weniger – unmittelbar – blutig, eher indirekt brutal.
Lucien allerdings bleibt in diesem Band kein indifferent mordender Soziopath mit selbstdefiniertem wissenschaftlichem Anspruch, er bekommt stattdessen mehr Raum und Hintergrundgeschichte. Was ihn als Antagonisten ungleich zugänglicher und faszinierender macht.



----- !!! Ab hier enthält diese Rezension SPOILER !!! -----


Carter ist ein unfassbar fähiger Autor, der sich in seinen zehn Bänden immer wieder steigert. Diese Steigerung bezieht sich sowohl auf die Brutalität – nein, besser: die Perfidität und Kreativität der Morde - als auch und vor allem auf das fachliche Können.
Der Autor hat es nicht nötig, seine Charaktere IMBA zu gestalten. Es passieren absolut menschliche Fehler oder Dinge, die jedem von uns passieren könnten. Dabei wird jederzeit psychologisch genau beobachtet (ein gutes Beispiel ist die Warteszene in Kapitel 30) und es werden Kleinigkeiten präsentiert, die die Charaktere mit kleinem Federstrich glaubwürdig und nachvollziehbar machen, sei es die Frage, wie die Seiten in Luciens Tagebüchern zu zählen sind (Kap. 29) oder dass das Rätsel (Kap. 37) erarbeitet werden muss, auch, wenn man ein Genie im Raum hat (andere Bücher hätten hier einfach von diesem eine Lösung vorbeten lassen).

Dennoch geht es auch hier in medias res und das gleich zweimal: einmal nüchtern, faktual mit der zeitlichen Schilderung, dann abrupt emotional mit der Reaktion auf das Blut im Wachhäuschen.
So schafft der Autor es "doch noch" - obwohl man den Antagonisten als Stammleser diesmal bereist kennt - einen Spannungsbogen der Vorfreude zu kreieren. Und das ganz ohne reißerische Steigerung der Gewalt.
Für mich zeigt das die hohe stilistische Qualität des Autors. Diese ist in meinen Augen wirklich hoch und mit den Bänden der Reihe auch spürbar weiter gewachsen.
Die Qualität, das Können des Autors zeigt sich auch, wenn er Stimmungen kreiert. Ein Beispiel:
In der Szene, in der Adrian den Ausbruch berichtet, wird durch den Eindruck verschiedener Gespräche (Hunter - Kennedy, Garcia) ohne die unnötige Verwendung von Adjektiven eine angespannte, hektische Stimmung kreiert - die gleich in der nächsten Szene von Luciens kontrollierter Ruhe kontrastiert wird.
Diese Szene zeigt auch, wie Carter Stamm- und Neuleser zugleich bedient: Erstere kennen Lucien bereits und sind so Teil der einen, "eingeweihten" und aus Erfahrung beuneuhigten Gesprächsebene, Letztere können Garcias Neugier und Beunruhigung ob der verwirrenden Situation empfinden.

Durch den ganzen Band hinweg sind Luciens Szenen immer fast schon ludistischer Natur, befreit seinen Wünschen folgend und den Takt bestimmend, während die Szenen der Ermittler angespannt, Regeln unterworfen, hilflos hinterherlaufend bleiben. Und all das, ohne dass Carter auch nur an einer Stelle ausführen muss, wie die Szenen jeweils zu lesen sein sollen oder Adjektive und Adverben anzuhäufen – einfach, durch die variierende Sprachfärbung schafft er dieses Bild.

Auch in den Mordszenen (z.B. Kap 49) wird eine Sachlichkeit eingehalten, die durch ihre Detailverliebtheit den Horror der Situation ergeben. Selten habe ich so viel über die Auswirkungen einer Bombenexplosion erfahren: Dadurch wurde es auch eine Szene bei der man unmöglich weiter hinsehen, aber noch viel weniger wegsehen konnte.

Noch ein Wort zur Perfidität der Morde: Mittlerweile zielt Carter in seinen – als Autor berufsbedingten – Mordphantasien für seine Geschichten schon auf die Angehörigen (vgl. den Mord an Tracys Mutter). Nicht nur, dass das als Idee an sich in einem Thriller schon ungewöhnlich wäre, auch die Art, wie er erst mit all den Ähnlichkeiten die Erwartung beim Leser („der ermordet jetzt aber bitte nicht Tracy???!“) schürt, dann den Spannungsbogen ins schier Unerträgliche steigert mit dieser detailverliebten, wunderbar kreativen Barbeschreibung – und den Leser mit Tracys Eintreffen unvermittelt in eine Verwirrung und Erleichterung stürzt.
Auch abgesehen von dieser Gefühlsachterbahn ist der Mord ein weiteres Beispiel für das handwerkliche Können des Autors, der seinen Lesern übrigens durchaus auch längere Satzkonstrukte zutraut: Es werden alle Perspektiven (Täter, Opfer, Ermittler, Angehörige) mit der ihnen jeweils gebührenden Tonalität präsentiert.

Carter schafft es also überdies eine - nunmehr - zehnbändige Reihe zu veröffentlichen, die sowohl für Stammleser als auch Neueinsteiger in jedem Band geeignet ist. Dazu muss er keineswegs auf eine fortgesetzte Geschichte verzichten, was meines Erachtens eine Kunst in sich darstellt, da er Neueinsteiger nicht mit Rekursen auf vorherige Bände ausschließt. Diese Rekurse erfolgen als kurze Nebensätze - holt den einen Leser ab, schließt den anderen nicht aus. (Übrigens schätze ich in dem Zusammenhang auch sehr, daß Hunter Biographie immer gleich geschrieben ist: Wer es kennt, kann bei Bedarf die zwei Seiten gefahrlos überspringen.) Auch Charakteristika wie „Ich lese viel“ bettet er in diesem Band im Nebensatz ein; ein geschickter Kniff, der als eingegebettetes Charakteristikum erlaubt, die Hintergründe der von Hunter an der Stelle gegebenen Information zu schmutzigen Bomben zu geben (Kap. 34) ohne den Vortrag zusammenhanglos vom Autor aus dem Off klingen zu lassen.

Dass ich mich auf jedes neue Buch von Carter freue, dürfte klar sein. Ich schätze die hohe handwerkliche Kunst, die Kreativität und das Können sehr - da stellt auch der aktuelle Band beileibe keine Enttäuschung dar!