Nora oder ein Puppenheim

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Ingemar Lerberg wird übel mitgespielt. Der Ex-Vorsitzende der schwedischen Bibelpartei wird in seinem Haus in einem schmucken Vorort von Stockholm brutal überfallen. Wer hat den Mann, der sich seit einem Steuerskandal aus der Politik zurückgezogen hatte, so zugerichtet? Warum hat er vor dem Überfall seine drei kleinen Kinder zu seiner Schwester gebracht? Und wo ist seine Frau Nora? Nicht nur die frischgebackene Kommissarin Nina Hoffmann stellt sich diese Fragen. Auch Annika Bengtzon, der hartnäckigen Reporterin des Abendblattes, lässt dieses rätselhafte Verbrechen keine Ruhe.

Liza Marklund erzeugt von der ersten Seite an Spannung. Anders als die ahnungslosen Reporter weiß der Leser das Lerberg gefoltert wurde um den Aufenthaltsort seiner Frau Nora preiszugeben. Was hat es mit dem Verschwinden dieser Frau auf sich, dass Profikiller ihren Mann fast zu Tode quälen um den Aufenthaltsort einer typischen Hausfrau und Mutter herauszufinden? Wobei die Betonung auf “fast zu Tode quälen” liegt. Denn so ist “die Titelseite, die den Mann etwas voreilig bereits für tot erklärte” natürlich obsolet. Was Annika Bengtzon ihrem Nachrichtenchef gegenüber zu der provokativen Frage veranlasst: “Sollen wir jemanden ins Söder-Krankenhaus schicken und ihn abmurksen lassen?. Derart bissige Kommentare behält sich Marklund jedoch nur für besonders unliebsame Zeitgenossen vor.

Ansonsten ist der Krimi wohltuend menschlich, einmal abgesehen von den sehr deutlich beschriebenen Folterszenen. “Jagd” ist für mich einer der besten aus der Annika Bengtzon Serie. Das liegt zum einen an den interessanten Themen die Marklund im Rahmen der Ermittlungen abhandelt. Sie gewährt Einblick in die schwedische Parteien- und Politikstruktur, schildert die Uniformität der privilegierten “Latte-Macciato-Mütter“, regt das Nachdenken über ethische Grundsätze von Internetforen und Blogs an und schafft es in einigen kurzen Sätzen vielschichtige soziale Probleme verständlich anzureißen. Zum Beispiel in Form einer Artikelserie die Annikas Kollegin Berit “über die neue schwedische Unterschicht“ schreibt.

Interessanter jedoch fand ich das zum ersten Mal, wie ich meine, ein literarischer Vergleich zugrunde liegt. Mir fiel erst im Laufe der Handlung auf, dass der Name Nora für die Frau von Lerberg wohl nicht zufällig ausgewählt wurde. Ich denke hier wird auf “Nora” von Henrik Ibsen angespielt. Diese große Frauenfigur des norwegischen Schriftstellers verlässt (vereinfacht dargestellt) Mann und Kinder, weil sie erkennt, dass sie von ihrem Mann keinen Rückhalt zu erwarten hat, obwohl sie ihm einst das Leben rettete. Sie verlässt das Haus und geht in eine ungewisse Zukunft. Was heute nicht weiter spektakulär klingt, war zu Zeiten der Uraufführung des Theaterstückes im ausgehenden 19. Jahrhundert ein Skandal, der die Grundfeste der Gesellschaft erschütterte. Anfangs beispielsweise durfte das Ende des Stückes auf der Bühne gar nicht gezeigt werden. Eine solche Empörung wird Marklunds “Nora” nicht auslösen. Für mich scheint aber offenkundig, dass die Autorin hier “Anleihen” genommen hat. Das finde ich bemerkenswert gut, denn es zeigt die zeitlose Aktualität der Stoffe, des berühmten norwegischen Dramatikers.


Für regelmäßige Leser der Serie sei noch erwähnt, dass die Handlung wie gewohnt an den letzten Fall anschließt und wie immer auch “alte Bekannte” auftauchen. Die Kriminalkommissarin Nina Hoffmann, die bereits im Krimi “Lebenslänglich” aus dem Jahr 2010 mit Annika Bengtzon ermittelte, ist wieder mit von der Partie. Annikas Ex-Mann Thomas kämpft nach seiner traumatischen Entführung in Nairobi mit den Nachwirkungen. Ihm wurde im letzten Fall die linke Hand abgehackt und er kann sich nach wie vor nicht an die Prothese gewöhnen. Innerlich zerfrisst ihn der Hass auf seine Ex-Frau. Annika hatte ihn nach seiner Freilassung verlassen und lebt nun mit seinem ehemaligen Chef zusammen, dem sie während der Entführung nähergekommen ist. Annika ist zwar mit Jimmy glücklich, muss sich jedoch die Anfeindungen seiner Kinder gefallen lassen. Hier ballt sich also auch privat viel Stoff für kurzweilige Leseunterhaltung.