Das Streben nach persönlichem Glück und Angenommensein - so wie mensch ist

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"Meine Geschichte will ich erzählen, weil ich glaube, dass wir uns mehr Geschichten erzählen sollten über uns in diesem Land. Möglicherweise hat mein Leben einige Überschneidungen mit den Leben anderer, die wie ich Kinder sind von Eltern, die irgendwann einmal hierherkamen und sich an nichts festhielten als an ihren Körpern und an ihren Träumen“ (S.15)

Der 15-jährige Željko Draženko Kovačević, der von allen nur „Jimmy“ genannt wird, lebt mit seinen Eltern, seinem älteren Bruder Kruno, seiner jüngeren Schwester Ljuba und dem Wellensittich Lothar in einer Zweizimmerwohnung in Ludwigshafen. Seine Mutter ist Reinigungskraft, der Vater jetzt Hausmeister, davor arbeitete er hauptberuflich auf diversen Baustellen in ganz Deutschland. Am 40.Geburtstag seiner Mutter begegnet Jimmy der Frau zum ersten Mal, die er wohl immer auf seine ganz eigene Art und Weise lieben wird – Martha Gruber. Sehr viel älter als Jimmy, Professorin, zur sogenannten „Bildungselite“ gehörend, wohlhabend, in einer großen Villa mit Pool und Garten in Heidelberg lebend. Martha verkörpert all jenes, was sich Jimmy wünscht – ganz besonders den Zugang zu Bildung - denn das Streben nach Bildung, der Wunsch nach damit verbundener gesellschaftlicher Anerkennung sind Jimmys stete Motivation. Obwohl er in Deutschland geboren wurde und einen deutschen Pass hat, will er wie die „richtigen Deutschen“ sein; sich zugehörig fühlen, sich und der Welt beweisen, dass mensch auch mit einem ausländisch klingenden Nachnamen zur sogenannten „Bildungselite“ gehören kann. Regelmäßig läuft der sympathische und ehrgeizige Jugendliche die Papiercontainer der Stadt ab, um Zeitungen zu sammeln, unermüdlich lernt er Fremdwörter; das Lesen eine Flucht von der eigenen familiären Herkunftsgeschichte, die stets mit Ressentiments und Stereotypen verbunden ist:

„denn ich wusste, dass ich nur so eines Tages als einer von ihnen gelten würde, ohne dass ich damals genauer hätte sagen können, wer >>sie<< eigentlich waren“ (S.60)

Im folgenden Sommer nimmt Jimmy einen Ferienjob bei Martha an und nähert sich so der ersehnten fremden Welt: Theaterbesuche, Zugang zur hauseigenen Bibliothek, intellektuelle Gespräche. Erstmals fühlt Jimmy sich gesehen und angenommen. Es ist der Beginn einer ambivalenten Bindung zwischen zwei Menschen, die mehr als zehn Jahre andauern wird, die Grenzen gesellschaftlicher Normen sprengt, Tabus bricht. Doch ist es tatsächlich Liebe? Ist es toxische Abhängigkeit in emotionaler und finanzieller Sicht? Handelt es sich nicht eher um Machtmissbrauch? Und wie wird sich Jimmys Leben nach dem Studium in München gestalten? Wird er Halt in sich selbst finden können oder den Boden unter den Füßen verlieren?

Feinfühlig, authentisch, reflektiert und ehrlich erzählt Martin Kordić in „Jahre mit Martha“ nicht nur von einer ungewöhnlichen und schicksalhaften Beziehung zwischen zwei ungleichen Menschen, sondern auch von zwischenmenschlichen Machtverhältnissen in akademischen Kreisen, von Bildungshunger, der seelischen Last migrantischer Zuschreibungen und Vorurteile, von Identitätssuche- und findung, dem Wunsch nach Zugehörigkeit – die nicht immerfort infrage gestellt wird –, der Sehnsucht angenommen zu werden, wie mensch ist, dem Streben nach dem persönlichen Glück. Ein berührendes Buch über einen jungen Mann, der oft scheitert und fällt, sich selbst verliert, schwankt, aneckt – aber letztendlich zurück zu sich selbst und seiner Familie findet. Sehr gern gelesen und eine unbedingte Leseempfehlung.