Ein Buch wie eine raue Umarmung

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fraedherike Avatar

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„So standen wir nun mitten in der Nacht und in Unterwäsche voreinander auf dem Steg eines Badesees. Frau Gruber und ich. Zwischen unseren Körpern lagen Jahre. Zwischen unseren Augen lag nichts.“ (S. 71)

Auf dem Geburtstag seiner Mutter sieht Željko sie zum ersten Mal: Martha, Frau Gruber – und verliebt sich in sie. Da ist er gerade fünfzehn, sie Anfang vierzig. Er lebt mit seinen beiden Geschwistern und den Eltern in einer kleinen Wohnung in Ludwigshafen; sie ist Professorin in Heidelberg und wohnt mit ihrer Familie in einem großen Haus mit Pool. In Frau Gruber sah er alles, was er sich für sein Leben wünschte: Bildung, Wohlstand, Souveränität. Er wollte gebildet sein, schwierige deutsche Wörter kennen und keiner von „denen“, wer auch immer „die“ sind. Nicht zuletzt seines großen Vorbilds Michael Jackson wegen weiß er, dass er alles sein kann, was er will, dass es sich zu kämpfen lohnt. Als sie ihm anbietet, in den Sommerferien in ihrem Garten zu arbeiten, sieht er darin seine große Chance, der Armut zu entfliehen – und ihr nahe zu sein. Es ist ein Sommer, der ihn für immer verändern wird: Sie geht mit ihm ins Theater, behandelt ihn wie einen Erwachsenen, wie einen Intellektuellen. Und sie kommen sich näher. Je mehr Liebe er von ihr erfährt, desto mehr wächst Željkos Welt. Doch der Griff der Abhängigkeit, der unbestimmbaren Macht, die sie mit ihrem Geld und ihrem Status auf ihn ausübt, schließt sich enger um ihn. Die Wolken öffnen sich und er fällt.

Einfühlsam erzählt Martin Kordic in „Jahre mit Martha“ nicht nur die ungewöhnliche und berauschende Liebesgeschichte eines jungen Mannes und einer älteren Frau, nein, diese Geschichte ist so viel mehr als das: Feinfühlig und bedrückend lässt er in Nebensätzen immer wieder anklingen, wie es um Željkos soziale Herkunft bestellt ist, dass er von klein auf lernt, für seine Familie, seine Geschwister zu sorgen, selbstlos ist; wie er seiner Mutter beim Putzen zur Hand geht, für sich und seine Geschwister Zeitungen aus alten Containern sammelt; den reichen Kindern von nebenan zeigt, wie man „arm sein“ wirklich spielt. Dem gegenüber stehen Željkos Fluchtversuche aus der Armut, die geprägt sind vom Alters- und Klassenunterschied und deren Auswirkungen auf seine Beziehung zu Martha. Was folgt, ist ein ungleiches Machtverhältnis, das an Ausnutzung und Gefügigkeit grenzt. Doch Željko muss sich in immer wieder seinem Gegenüber kniend wiederfinden, geschlagen; Martha, die er vergöttert und ihm finanzielle Unabhängigkeit durch emotionale Abhängigkeit ermöglicht; seinem Dozenten Alex Donelli, dem Starprofessor, der ihn hintergeht und durch sein Licht für andere unnahbar macht.

Es sind die immer wiederkehrenden Muster in Željkos Leben, die mürbe machen, ihn, das Kind einer bosnischen Einwanderer- und Arbeiterfamilie jedoch anspornen, denn er weiß, was er kann, er weiß, wer er ist und was er will. Und all das – seine zuversichtliche Einstellung allen Widrigkeiten zum Trotz, die Vorurteile und den Hass (let’s say it: Rassismus) deutscher Beamter mit Worten (und manchmal auch mit Fäusten) dementierend, seine Hartnäckigkeit – hält ihn am Leben. Er durchlebt eine unkonventionelle Heldenreise, fliegt hoch und stürzt tief, gerät auf die schiefe Bahn. Und er schreibt, schreibt und liest über und von der Liebe, von Hertha Kräftner, seiner Schutzpatronin – und landet sanft, als sich der Kreis und damit ein Kapitel seines Lebens schließt.

Innerhalb weniger Seiten hat die Geschichte von Željko aka Jimmy mit seiner sanften Rauheit und der multithematischen Herangehensweise, die gleichermaßen als gesellschaftliches Psychogramm, als Coming of Age-, Liebes- und Bildungsgeschichte gelesen werden kann, mein Herz erobert. Ich habe gelacht und geweint, gelitten und gebangt – vor allem aber: geliebt. Was für ein grandioses Buch!