Heimat ist den Kampf wert

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"Niemand hat das Recht dazu, seine Heimat aufzugeben. Man kann alles wieder aufbauen."

Als Vertriebene aus Ostpreußen muss sich Leonore nach dem Zweiten Weltkrieg eine neue Heimat schaffen. In einem kleinen Dorf zwischen Aachen und Köln findet sie Zuflucht und fühlt sich vor allem im nahegelegenen Wald zuhause. Sie findet dort Trost und neuen Lebensmut. Doch als ihr Sohn Paul gerade zwölf Jahre alt ist, wird der Braunkohletagebau beschlossen - das Dorf muss weichen. Jahre später leben Leonore, Paul und dessen Kinder Jan und Sarah in einem seelenlosen Neubaugebiet, das das alte Dorf mehr schlecht als recht ersetzt. Und zu allem Überfluss stehen sich die beiden Geschwister schließlich als Gegner gegenüber - Jan bedient einen der riesigen Schaufelradbagger, während Sarah sich den Baumbesetzern im Hambacher Forst anschließt.

Beim Thema "Hambacher Forst" schrillen aktuell ja alle Alarmglocken. Andreas Wagner hat sich für seinen Roman ein Thema ausgesucht, das ihn nicht nur persönlich betrifft, sondern unsere ganze Nation in Aufruhr versetzt (hat). Ideal Prämissen also für einen informativen und spannenden Roman.

Leider verschenkt Wagner in Leonores Handlungsstrang das Potential eines zündenden Anfangs. Für den Leser ziemlich kontextlos findet sich Leonore als Flüchtlingsmädchen in dem kleinen Dorf Lich-Steinstraß wieder, wo sie von dem gutmütigen Moppen-Bäcker Immerath aufgenommen wird. Sie geht dem Bäcker zur Hand, hilft seiner Mutter, erlernt nach und nach das alte Handwerk des Moppen-Backens. Und wie so viele ostpreußische Flüchtlinge wird sie von den Dorfbewohnern geschnitten und Zeit ihres Lebens verachtet. Dafür hat sie ihre tiefe Liebe zum Wald, in dem sie sich mehr zuhause fühlt als in irgendeinem Haus. Und damit erschöpft sich Leonores Geschichte eigentlich auch schon. Immer wieder greift Wagner auf die gleichen Elemente zurück. Ein Kuriosum taucht in ihrem Leben noch auf, und zwar der Harbinger Arnold, ein irgendwie kleinwüchsiger, geistig zurückgebliebener junger Mann, der in der Geschichte als eine Art Unglücksbote fungiert. Damit fängt der Hokuspokus in Leonores Handlungsstrang erst an. Wenn ich Sätze lese wie "Leonore levitierte", da wird mir ganz anders. Und dann wird sie auch noch wie eine Maria inszeniert, die vom benachbarten Gemeindepfarrer "unbefleckt" geschwängert wird, weil sie in ihrer weißen Bäckerschürze über dem Waldboden schwebt. Was hat denn sowas in dieser Geschichte zu suchen? Da verging mir beinahe die Lust am Lesen.

Mit Pauls Handlungsstrang wird dann aber alles besser, und die Geschichte liest sich nur so weg. Während seine Mutter Lich-Steinstraß notgedrungen als Heimat akzeptieren musste, ist es für Paul wirklich Heimat. Hier ist er geboren und aufgewachsen, hier will er die alte Moppen-Bäckerei übernehmen. Doch als die Vertreter der Tagebaufirma im Dorf aufkreuzen, ist es mit diesen Plänen schnell vorbei. Das Unvermeidliche steht ins Haus - die vollständige Zerstörung der Heimat und der uralten Bäckerei-Tradition, denn den Ofen kann man nicht abbauen und mitnehmen. Paul macht Ausverkauf, sowohl materiell als auch seelisch, denn am Ende landet er als Wachmann auf dem Braunkohlegelände. Und die Firma macht ihm das schmackhaft als großartige Chance. Der totale Verlust der Heimat, der absolute Kontrollverlust über das eigene Leben, die unbarmherzige Zerstörung eines einzigartigen Naturwunders - diese großen Themen bringt Wagner hier gekonnt auf den Tisch.

In Jans und Sarahs Geschichte kulminiert dieser Konflikt - und damit auch Wagners erzählerische Leistung. Unwissentlich stehen sich die beiden Geschwister als Gegner gegenüber. Jan ist begeisterter Baggerfahrer, er steuert eines der Monstren, die das Gelände umgraben und zerstören. Sarah hingegen verschanzt sich voller Überzeugung in einem der Baumhäuser, die wir nur zu gut aus den Nachrichten kennen, und für die Wagner ein aus den Medien ungekanntes Verständnis schafft. Diese Opposition scheint unüberwindbar, und doch gelingt es Wagner, auf poetische und vor allem authentische Weise zu zeigen, dass wir immer eine Wahl haben. Auf welcher Seite wollen wir stehen? Jan trifft seine Entscheidung und ändert dadurch alles. Dieser letzte Abschnitt war für mich ein kleines Lesehighlight, von Trauer bis Hochspannung war da alles dabei. Und tagesaktueller kann eine Geschichte ja kaum sein.

Andreas Wagner hat mit "Jahresringe" ein Debüt vorgelegt, das am Anfang vor Kitsch und Hokuspokus nur so trieft und sich ab der Hälfte zu einem Heimatroman erster Güte entwickelt. Schade, dass das Lektorat da nicht eingegriffen hat, denn das wäre sonst ein ganz klares 5*-Buch geworden.