Ein überzogener Gegenentwurf zu Huckleberry Finn

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Mit seinem Roman "James" unternimmt Percival Everett den ambitionierten Versuch, Mark Twains Klassiker "Die Abenteuer des Huckleberry Finn" aus einer neuen Perspektive zu erzählen. Dabei formt er die Figur des Sklaven Jim zu einem hochintelligenten, eloquenten Mann namens James um, der sich heimlich Bildung angeeignet hat.

Grundsätzlich ist Everetts Ansatz begrüßenswert - er möchte Jim/James eine eigenständige Identität jenseits rassistischer Stereotype verleihen. Leider übertreibt er es dabei beträchtlich. James wird zur fast übermenschlichen Figur stilisiert, die scheinbar mühelos die Werke der Aufklärungsphilosophen zitieren und mit ihnen debattieren kann. Dies wirkt äußerst künstlich und unglaubwürdig für einen Sklaven im 19. Jahrhundert.

Zwar gelingt es Everett so, rassistische Denkmuster der damaligen Zeit schonungslos zu sezieren. Doch statt einer facettenreichen Charakterstudie erhält der Leser lediglich eine Lektüre über die Ungereimtheiten von Sklaverei und aufklärerischen Ideen der Gleichheit. James dient mehr als moderne Projektionsfläche denn als historisch glaubwürdige Figur.

Auch die Beibehaltung der originalen Handlung und Figuren von "Huckleberry Finn" erweist sich als problematisch. Statt neuen Erkenntnisgewinn entsteht oft der Eindruck einer besserwisserischen Umschreibung des Klassikers aus heutiger Sicht.

Sicher rüttelt "James" an überholten Klischees und regt zum Nachdenken über Rassismus an. Doch Everetts überzeichneter, didaktischer Stil ist eher Transportmittel einer Botschaft als literarische Auseinandersetzung auf Augenhöhe mit Mark Twains Roman. Durch die realitätsferne Überfrachtung der Figur James geht viel Mehrschichtigkeit und Subtilität verloren. Am Ende steht ein unausgewogenes Werk der Selbstbeschwörung, nicht der gelungene Gegenentwurf zu einem Meisterwerk.