Zeitgeschichte neu betrachtet

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Percival Everetts „Erschütterung“ hatte mich überzeugt, dass er zu Unrecht ein unbeschriebenes Blatt für mich war. Nun kommt also mit „James“ ein weiteres Werk auf den Markt, das es sich zu lesen lohnt – oder nicht?

Der titelgebende James, meist jedoch Jim genannt, ist ein Sklave: Schon bei seiner Geburt wurde er verkauft und später erneut, bis er eines Tages wieder verkauft werden soll und abhaut. Auf seiner Flucht begleitet ihn Huck, ein Junge, der ihn anfänglich deutlich James‘ Sklavendasein spüren lässt. Doch auf der Flucht über den Mississippi werden die Karten neu gemischt … hier geht es erstmal ums Überleben und dafür ist James gut gewappnet. Immer selbstverständlicher wird dem lesenden Sklaven seine Gewandtheit und genau deshalb muss er aufpassen, dass er als Entlaufener nicht einem unerfreulichen Schicksal anheimfällt.

Hätte man mich gefragt, ob ich „Tom Sawyers bzw. Huckleberry Finns“ Abenteuer aus einer anderen Perspektive lesen wollte, ich hätte wohl (dankend?) abgelehnt. Doch letztlich ist Everetts „James“ nichts viel anderes und nach der Lektüre bin ich dankbar, dass mir das zuvor nicht bewusst war. Denn ja, Everett hat diesen Klassiker auf den Kopf gestellt, wie es der Klappentext konstatiert. Und ja, er hat auch einen DER Romane unserer Zeit, allemal des Jahres 2024 geschrieben. Und ich bin dem Verlag dankbar, dass er sicherlich diskutierten „Versuchungen“, gewisse Wörter nicht zu verwenden, widerstanden hat. Denn nur so wird das ganze Ausmaß des Leids, der Resilienz der Menschen, die unter Diskriminierung, Unterwerfung usw. dieses unmenschlichen Systems in den USA des 19. Jhs litten, deutlich. Streckenweise erinnert man sich daran, dass das Thema auch heute noch nicht vollständig der Vergangenheit angehört – und wie viele Jims sich auch heutzutage noch etwa auf den Weltmeeren, auf Baustellen oder in Minen befinden. Normalerweise schätze ich allzu einfachen Schreibstil nicht, doch hier nutzt Everett ihn als Stilmittel, um eine Entwicklung aufzuzeigen und schon früh wird Jims Sprachgewalt in seinen selbstreflektierenden Passagen ja deutlich. Zugleich bringt Everett damit eine Komik rein, die man für dieses ernste Thema nicht erwartet. So ertappt man sich beim Lesen bei einem breiten Grinsen, das einem im nächsten Moment auf dem Gesicht gefriert. Diese so schonungslose Geschichte, die der Menschheit so unbarmherzig und zugleich heiter den Spiegel vorhält, kommt unscheinbar daher, ist aber zweifellos große Literatur.