Ein Buch über Obsessionen, das selbst zur Obsession wird

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"Sie sagte immer, ich wäre Moms Liebling, aber das ist nicht wahr. Es war eher so, dass Mom mich als Erweiterung ihrer selbst sah, während Edie die Freiheit hatte, ganz sie selbst zu sein."

Nach dem Selbstmordversuch ihrer Mutter sind Mae und Edie gezwungen, zu ihrem Vater nach New York zu ziehen. Der hatte sie vor 12 Jahren verlassen und sich nie wieder bei ihnen gemeldet. Mae ist froh, endlich von ihrer labilen Mutter wegzukommen und schwebt im siebten Himmel, als sie ihrem Vater bei seinem neuen Roman helfen darf. Edie hingegen ist von der Idee besessen, der psychisch kranken Mutter zu helfen, sie aus der Klinik zu befreien, weg vom verräterischen Vater zu kommen. Auf ihrer Suche nach Zugehörigkeit müssen die beiden schließlich der Wahrheit über ihre Familie ins Gesicht blicken.

Wenn man in den Roman startet, nimmt man zunächst an, Maes und Ediths Perspektiven würden sich jeweils abwechseln. Doch nach und nach lässt die Autorin Fragmente aus anderen Leben einfließen, in Form von Briefen, Telefongesprächen, Interviews, Protokollen von Therapiesitzungen oder kurzen, episodenhaften Ich-Erzählungen. Neben den vier wichtigsten Figuren - Mae, Edie, ihr Vater Dennis und ihre Mutter Marianne - kommen auch Randfiguren zu Wort, die alles wieder in ein etwas anderes Licht rücken. Eine absolute Wahrheit sucht man in dieser Geschichte vergeblich, denn jede der Figuren hat ihre eigene - wie im echten Leben eben auch. Durch die kurzen Kapitel und Perspektiv- sowie Zeitwechsel entwickelt das Buch eine unheimliche Sogwirkung. Ich habe es in einem Rutsch durchgelesen, saß drei Stunden wie gebannt vor diesen süchtig machenden Seiten.

Ganz subtil gelingt es Katya Apekina nämlich, dieses Buch über krankhafte Obsessionen selbst zu einer Obsession zu machen. Niemals hätte ich erwartet, was Mae und Edie auf der Reise in den Kern ihrer Familie erwartet. Mae wird besessen von der Idee, die Liebe des Vaters gewinnen zu wollen. Dennis sieht in ihr nicht viel mehr als eine weitere Muse, die er (bewusst oder unbewusst) für seine Romane aussaugt. Edie will die Mutter retten, doch der ist nicht mehr zu helfen. Marianne verliert sich in ihrer eigenen Welt, bereut die Beziehung zu Dennis und will nicht an ihre Töchter denken, klammert sich aber gleichzeitig krankhaft an Mae und macht ihr Leben zur Hölle. Und hinter all diesen Obsessionen steckt noch so viel mehr, so viel Leid, Leidenschaft und Liebe, dass man irgendwann gar nicht mehr weiß, wer Opfer und wer Täter, wer Verletzter und wer Verletzender ist. Ein Strudel der Gefühle entwickelt sich, der bei mir mal zu Herzrasen, mal zu Herzstillstand geführt hat.

Apekina bietet uns für diese verfahrene Familiengeschichte keine wohlwollende Lösung an. Sie lässt ihre Figuren die Entscheidungen treffen, die sie eben treffen können, und die schwanken zwischen unangenehm und schrecklich. Und doch gelingt es Mae und Edie am Ende, sich irgendwie im Leben einzurichten, auch wenn sie die alte Angst nie ganz verlässt. Dazu nur soviel: Wie brillant ist bitte der letzte Satz? 5 Sterne und sehnsüchtiges Warten auf das nächste Buch von dieser neuen, begnadeten Autorin!