Wo ist Jim? Mitreißende Spurensuche mit unerwarteter Wendung

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gluexklaus Avatar

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„Einige Menschen sehen nur das, was sie sehen wollen.“

Mary arbeitet tagsüber in einem Supermarkt und nachts freiwillig bei einer Telefonseelsorge. Auch sie selbst hat große Sorgen. Sie steht jeden Abend mit einem Schild an einem Londoner Bahnhof. „Komm nach Hause, Jim“ lauten die Worte auf ihrem Plakat. Mary hat seit sieben Jahren nichts mehr von ihrem Freund Jim gehört. Als die junge Journalistin Alice Mary kennenlernt, möchte sie Mary helfen, Jim zu finden. Nicht ganz uneigennützig. Möglicherweise springt dabei eine gute Story heraus, die sie so dringend benötigt, um ihren Job behalten zu können. Was Alice schließlich bei ihren Recherchen erfährt, ist für alle Beteiligten mehr als überraschend.

Autorin Abbie Greaves erzählt flüssig und gut verständlich auf verschiedenen Zeitebenen. Sie schildert im Präsens, was 2018 passiert, als Alice Mary trifft und stellt in eingeschobenen Rückblenden dar, wie sich die Beziehung zwischen Mary und Jim vom ersten Kennenlernen bis zu Jims Verschwinden entwickelt. Es wird dabei zunehmend deutlicher, welche Gründe zu Jims Weggang führten.

Marys Leben steht seit Jims Verschwinden auf Stillstand. Sie „funktioniert“ im Alltag. Unermüdlich stellt sie sich jeden Abend mit ihrer Botschaft an den Bahnhof. Mary scheint jeden Willen, etwas zu verändern, verloren zu haben. Als sie Alice kennenlernt, tut sich etwas. Mary wird durch die offene, neugierige, mitfühlende und zupackende Alice gezwungen, sich mit ihrer Situation auseinanderzusetzen. Doch auch Alice hat ihre Gründe, warum sie Mary unbedingt helfen möchte. Und die sind nicht nur beruflicher Natur.
Alices Verhalten und ihr Handeln waren für mich nachvollziehbar. Mary blieb mir insgesamt fremd, zu unnahbar, zu distanziert. Sie wird nur durch ihre Situation, durch ihr Verlassensein definiert, als Opfer unglücklicher Umstände. Sie selbst, ihre Persönlichkeit, bleibt dabei aber über weite Strecken zu blass. Was sie wirklich antreibt, blieb mir verborgen. Auch mit Jim konnte ich recht wenig anfangen. Was ihn für Mary so anziehend und faszinierend macht - ganz unabhängig von seinen Problemen- konnte ich nicht hundertprozentig nachfühlen. Die Figuren wirken wie Nebensache während der Plot die eigentliche Hauptrolle spielt.

Was passierte damals wirklich mit Jim? Wo steckt er? Wird Alice es schaffen, Jim ausfindig zu machen?
Diese Fragen drängen, machen sehr neugierig auf den Handlungsverlauf und halten die Spannung durchgehend oben. Die Aufklärung ist dann völlig überraschend und gibt Stoff zum Grübeln. Zentrales Thema ist dabei immer wieder das Verlassenwerden, das auf ganz unterschiedliche Arten stattfinden kann, sei es mit und ohne Abschied und Ansage, endgültig oder nicht für immer.
Der Roman zeigt, wie wichtig es ist, sich auf andere einzulassen, genauer hinzuschauen, ihnen zuzuhören. Letztendlich ist niemand eine Insel und manchmal brauchen Menschen von außen einen Schubser, um etwas zu ändern. Leider lassen sich nicht alle Probleme so einfach lösen und alle Menschen retten, das wird im Roman ebenfalls deutlich.
Auch wenn mir zu den Protagonisten teilweise die Verbindung fehlte, hat mich ihre Geschichte mitgerissen, bewegt und sehr nachdenklich gemacht. Keine wirkliche Liebesgeschichte, eher ein vielfältiger, teils schmerzhafter Beziehungsroman, in dem die Welt nicht nur heil ist. Wer überraschende Wendungen mag, wird hier nicht enttäuscht werden.