Bissig, authentisch, lakonisch: eine moderne Selbstfindung zwischen Frausein, Judentum, Vergangenheit und Zukunft

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Ludmilla, genannt Lou, ist Galeristin in den Dreißigern und Mutter der kleinen Rosa. Ihre Ehe mit dem erfolgreichen Pianisten Sergej ist stabil, wenn auch mittlerweile mehr durch Routine als durch Leidenschaft geprägt, das Sprechen über Gefühle fällt beiden schwer. Als Rosa bei einem Besuch bei einer Freundin, ein Kinderbuch über Anne Frank in die Hände bekommt und glaubt Hitler hätte dieses geschrieben, setzt bei Lou eine zunächst kaum greifbare Auseinandersetzung mit ihrer jüdischen Identität ein, ein Glauben und eine Kultur, die im Hintergrund schon immer das Leben von ihr und ihrer Familie bestimmt haben, nicht zuletzt die schmerzhafte Geschichte und Vergangenheit, jedoch in den Traditionen und der gelebten Praxis weder für sie noch für Sergej und auch nicht in der Erziehung Rosas heute bisher eine signifikante Rolle gespielt haben.

Und so begleiten wir in Juli, August, September mit Lou eine junge Frau, Mutter, Tochter und Ehefrau auf einer Suche, um eine Leerstelle in sich zu füllen, die zunächst nur vage Umrisse zeigt, sie deshalb kaum benennen oder auch nur fassen und sich lange selbst nicht eingestehen kann.

In Lous und Sergejs eigener Kindheit und Erziehung vermischen sich sich sowjetische und postsowjetische Erziehungsmuster, Traditionen und Kultur mit der jüdischen Familiengeschichte und ihren eigenen Traditionen. So wirft Olga Grjasnowa in diesem Roman einen Blick auf die Lebenswege und Lebenswelt speziell russischer Juden und ihrer schmerzhaften Geschichte. Im Gegensatz zum Rest der großen Familie ist Lous Mutter mit ihr nach Deutschland emigriert und nicht nach Israel, was auch in der Familie immer wieder zu Spannungen führt, die sich schließlich in einem großen Familientreffen auf Cran Canaria anlässlich des Geburtstags ihrer hochaltrigen Großtante entladen.

In diesem Kontext bearbeitet die Autorin neben jüdischer Identität und Lebenswegen weitere zentrale Themen, wie Mutterschaft, Fehlgeburten, moderne Beziehungen und ihre Herausforderungen.

Die Erzählung ist in drei Teile gegliedert. In Juli lernen wir Lou, Sergej, Rosa, ihr Familienleben und die Beziehung näher kennen. Im zweiten Teil steht das Familientreffen mit allen Eigenheiten und Eskalationen auf Cran Canaria im Mittelpunkt und Lous erste Einblicke in die Vergangenheit ihrer Großmutter und Großtante. Der letzte Abschnitt führt Lou auf ihrer Suche nach Antworten schließlich nach Israel.

Die ruhige, lakonische, sensible und aufmerksame Art mit der Grjasnowa Lou porträtiert und begleitet hat mich tief an ihrem Lebensweg und ihrer Geschichte teilhaben lassen. Besonders gut gefällt mir der zum Teil fast bissige Schreibstil, mit dem die Autorin gerade auch Besonderheiten und Absurditäten in der Familie wie im Alltag einzufangen weiß. So gelingt ihr ein modernes Porträt einer postsowjetisch-jüdischen Selbstfindung und Familie. Ganz klare Empfehlung!