Herkunft, jüdische Identität und Familie

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downey_jr Avatar

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Die Ich-Erzählerin Lou in Olga Grjasnowas Roman „Juli, August, September“ lebt mit ihrem zweiten Ehemann Sergej, einem erfolgreichen Pianisten, und ihrer gemeinsamen fünfjährigen Tochter Lou in Berlin. Lous Mutter lebt ebenfalls in Deutschland, der Rest der großen Familie ist nach Israel ausgewandert und führt dort ein privilegiertes Leben, während Lous Mutter in Deutschland gerade so mit einer mickrigen Rente zurechtkommt.

"Ich schaute mir den Körper meiner Mutter an - er war ganz anders als die Körper der anderen Frauen hier, müder, unförmiger. Mit einer riesigen Narbe auf dem Bauch und einer auf dem rechten Oberarm. Es war ein Körper, der von einem anderen Leben erzählte. Einem Leben, das durch Arbeit und Krankheit gekennzeichnet war, einem Leben ohne Filler, kosmetische Behandlung und Kompromisse. Ich fühle mich schuldig, dass mein Leben so bequem war."

Sergej ist viel unterwegs und Lou zweifelt immer öfter an ihrer Beziehung.
Beide sind russisch-stämmige Juden, aber im Alltag spielt ihr Glaube eigentlich keine Rolle.

"Die meisten meiner Verwandten achteten penibel auf eine jüdische Partnerwahl. Für mich war es das jüdische Paradoxon: Es war verboten, zu missionieren, es gab keine Pilgerstätten, und nicht einmal die Konvertiten wurden mit offenen Armen empfangen - aber die Nachkommen mussten jüdisch sein, wobei keiner genau wusste, was das eigentlich hieß, und so stützen wir uns alle auf die halachischen Regeln. Wir alle hatten den Eintrag "Jude" in unserer Geburtsurkunde oder in unseren Pässen gehabt, aber es gab kaum Traditionen, die übrig geblieben wären. Unser Judentum war eine kulturelle Performance, und selbst die war nicht besonders gut. Allerdings waren wir die einzigen die sich dafür rechtfertigen mussten."

Lou überlegt, ob sie ihrer Tochter mehr von ihrer jüdischen Identität näher bringen soll; ihr Mann Sergej tut dies mit einem Witz ab: „Juden haben keine Wurzeln, Juden haben Beine.“

Doch Lou kann nicht aufhören, über ihre Herkunft und ihre Identität nachzudenken.

"Es war das erste Mal, dass ich hörte, wie Rosa sich mit einer Herkunft identifizierte, und dass es die deutsche wahr, versetzte mir einen Stich. Aber was hatte ich erwartet? Immerhin war ich diejenige gewesen, die zusammengezuckt war, als Rosa vor zwei Monaten im Schwimmbad einem unbekannten Mädchen erzählt hatte, sie sei jüdisch. Als Kind sollte ich nie sagen, dass ich jüdisch bin. Es war eine Vorsichtsmaßnahme, die sich aus der Erfahrung meiner Eltern ergab. Ich wollte etwas Besseres für meine Tochter, doch während sie wie selbstverständlich mit Wildfremden darüber sprach, krampfte sich in mir alles zusammen. Wir hatten ihr nicht einmal beigebracht, wie man sich selbst schützt."

Während Sergej mal wieder auf Konzertreise geht, fliegt Lou gemeinsam mit Rosa und ihrer Mutter nach Gran Canaria, wo der 90. Geburtstag ihrer Tante Maya gefeiert wird. Dort trifft der komplette ex-sowjetische Clan aus Israel zusammen, was für Lou alles andere als einfach ist.

"Meine Familie kam mir vor wie ein schlecht übersetztes Buch: Zu meinen Verwandten hatte ich keine Rechte Bindung und wusste nur grob darüber bescheid, wer sie waren, was sie taten oder worüber sie sprachen. Sie hingegen schienen alles über mich zu wissen."

Während des Aufenthalts auf Gran Canaria flammen auch alte Konflikte zwischen Lous Mutter und deren Tante Maya wieder auf. Denn Mayas Anekdoten aus der Kindheit und Jugend in der Sowjetunion weichen stark von den Erzählungen der verstorbenen Großmutter Rosa (nach der auch Lous Tochter Rosa benannt wurde) ab.

„Maya war die letzte Zeugin, und sie veränderte die Geschichte vom Überleben nach ihren Bedürfnissen. …Sie manipulierte die Erinnerung und war doch zugleich die Einzige, die sich überhaupt noch erinnern konnte.“

Um Antworten auf ihre Fragen zu finden, schickt Lou Rosa mit ihrer Mutter nach Deutschland zurück und reist selbst ihrer Großtante Maya nach Israel hinterher ...

Eigentlich hat mit der Roman über Herkunft und (jüdische) Identätit sehr gut gefallen; ich mag Olga Grjasnowas Schreibstil sehr. Nur mit dem Ende bin ich leider nicht glücklich ... Nicht falsch verstehen, ich mag „offene Enden“ aller Art grundsätzlich schon – aber bei diesem Roman lässt es mich ein wenig ratlos zurück. Das Buch endet einfach - aber ich weiß nicht so recht, was die Autorin damit sagen will. Schade, ansonsten war es wirklich gut; nur der Schluss ist leider unbefriedigend.