Jüdische Identität

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lesefin__ Avatar

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Olga Grjasnowa: Juli, August, September

Dieser Roman ist eine eindrucksvolle Familiengeschichte, die uns durch die verzweigten Verbindungen einer jüdischen Familie in Berlin führt. Im Mittelpunkt steht eine Protagonistin, die mit ihrer eigenen Identität, ihrer Rolle als Mutter und den Herausforderungen, ihr Kind in einer jüdischen Tradition zu erziehen, ringt. Dabei lebt die Familie nicht streng religiös, sondern führt ein weitgehend säkulares Leben – was die Frage nach der jüdischen Erziehung besonders herausfordernd macht.

Eine der zentralen und berührendsten Fragen des Romans ist: Wie erzählt man seiner Tochter vom Holocaust und von Figuren wie Hitler und Anne Frank, ohne sie zu überfordern? Dabei wird der innere Konflikt der Mutter spürbar – wann ist der richtige Zeitpunkt, um über solche traumatischen Kapitel der Geschichte zu sprechen? Und was passiert, wenn die Tochter dann plötzlich orthodox werden möchte? Die Spannung zwischen familiären Wurzeln und individueller Entwicklung wird hier spannend dargestellt.

Sergej, der Ehemann der Protagonistin, ist ein talentierter Musiker, der nach außen hin stets Kontrolle ausstrahlt. Doch auch bei ihm beginnt die Fassade zu bröckeln, und seine Unsicherheiten treten allmählich zutage. Grjasnowa schafft es, die inneren Kämpfe der Charaktere eindringlich und nachvollziehbar zu schildern.

Dann ist da noch die Reise der Protagonistin nach Gran Canaria zum 94. Geburtstag von Maya, der Schwester ihrer Großmutter. Obwohl die Protagonistin nur wenig Bezug zu ihrer in Israel lebenden Verwandtschaft hat, lässt sie sich überreden, die Reise anzutreten. Der Urlaub entpuppt sich als anstrengend. Besonders die unterschiedlichen Ansichten der Verwandten über Erziehung und Familiengeschichte stehen im Mittelpunkt der familiären Spannungen. Nach und nach wird deutlich, dass Maya, eine Holocaust-Überlebende, die Erinnerung an die Vergangenheit manipuliert, um das eigene Überleben in einem bestimmten Licht darzustellen. Grjasnowa wirft hier die Frage auf, inwieweit Erinnerung ein formbares Konstrukt ist und wie sich individuelle Geschichten über Generationen hinweg verändern können.

Ich finde, das Buch ist gekonnt geschrieben. Es verbindet Vergangenheit und Gegenwart auf eine spannende Weise und behandelt dabei hochaktuelle Themen wie jüdische Identität, familiären Zusammenhalt und die Herausforderungen der Erziehung. Der Schreibstil ist flüssig und atmosphärisch dicht, der Spannungsbogen von Anfang an vorhanden. Besonders beeindruckend ist die Tiefe, mit der Grjasnowa die emotionalen und historischen Themen miteinander verwebt. Dieses Buch ist nicht nur eine bewegende Familiengeschichte, sondern auch ein relevantes Werk über das Weiterleben nach traumatischen Erfahrungen und die Bedeutung von Erinnerung. Grjasnowa gelingt es, tiefgründige Fragen über Identität, Tradition und Geschichte in einer Weise zu erzählen, die zugleich spannend und emotional fesselnd ist. Ein Roman, der lange nachhallt.