Was müssen wir über unsere Familiengeschichte wissen, um eine glückliche Zukunft haben zu können?

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In "Juli, August, September" von Olga Grjasnowa begleiten wir Lou, eine junge Frau in den 30ern, durch diese drei Monate in einem Jahr ihres Lebens in der jetzigen Zeit. Im Juli ist Lou in Deutschland, wo sie mit ihrem Mann Sergej und der gemeinsamen kleinen Tochter Rosa lebt.

Lou ist Galeristin und schreibt an einem Buch, Sergej ist ein berühmter Pianist, viel auf Konzerten und wenig zu Hause. Die Familie ist von ihrer Herkunft jüdisch, Lou ist mit ihrer Mutter als Kind aus Russland nach Deutschland emigriert, auch ihr Mann ist jüdisch und hat Wurzeln in Russland. Die weitere Verwandtschaft lebt mehrheitlich in Israel.

Sergej und Lou beschäftigt die Frage, ob und wie sie ihrer kleinen Tochter Rosa das Jüdisch-Sein vermitteln können, das sie selbst kaum aktiv religiös praktizieren, aber ihnen doch als kulturelles und familiäres Erbe wichtig ist... und sie aber gleichzeitig davor schützen können, sich zu sehr zu exponieren. Bisher sind sie dem Thema eher durch Vermeidung begegnet, werden aber laufend vor Herausforderungen diesbezüglich gestellt, etwa, als eine Kindergartenfreundin ihrer Tochter ein Anne-Frank-Bilderbuch zeigt.

Im August trifft Lou, gemeinsam mit ihrer Mutter und mit Rosa, ihre Verwandten zur 90er-Feier ihrer Großtante auf Mallorca.

Im September begibt sie sich schließlich spontan in einem weiteren Land auf Spurensuche, um ihre Familiengeschichte und Herkunft - und vielleicht auch sich selbst und ihren momentanen psychischen Zustand - besser zu verstehen.

Das erste und letzte Drittel des Buches habe ich sehr spannend gefunden. In der Mitte - das ist der Teil, in dem hauptsächlich das Familientreffen auf Mallorca beschrieben wird - hatte es für mich gefühlt Längen (trotz der insgesamt angenehm kurz gehaltenen Kapitel), die aber wiederum möglicherweise gut das Gefühl der Langeweile, Unverbundenheit und Sich-Gegenseitig-Nicht-Verstehens der verschiedenen Familienmitglieder widerspiegeln.

Die Charaktere wirken mehrheitlich getrieben, unzufrieden und im Leben nicht sehr angekommen. Das gilt für Lou selbst genauso wie für ihren derzeitigen Ehemann, ihren geschiedenen Ex-Mann als auch für die Mehrheit der beschriebenen Verwandten. Man lebt so dahin, mit all seinen Problemen, Fragen, Zweifeln und Neurosen... und tut sich oft schwer damit, sich wirklich ehrlich miteinander zu unterhalten und sich tiefgründig aufeinander einzulassen.

Damit ist der Autorin eine gelungene Charakterisierung der psychischen Herausforderungen vieler Menschen der heutigen Zeit gelungen und sie zeigt am Beispiel einer jüdischen Familie, wie alte Geschichten und Traumata bis heute nachwirken und wie schwierig es ist, miteinander darüber zu sprechen und sie zu überwinden.

Ein treffendes Zitat dafür, das die Themen des Buches insgesamt gut zusammenfasst, findet sich auf S. 182, da sagt Lou zu ihrem Mann: "Ich weiß nicht mehr, warum wir das alles tun. Wir geben uns so viel Mühe für eine Religion, obwohl wir nicht an Gott glauben, für eine Vergangenheit, an der kaum etwas gut war, für eine Zukunft, die maximal ungewiss ist, und für eine Identität, die wir selbst nicht mehr verstehen."

Insgesamt war es ein angenehm zu lesendes Buch, das spannende Fragen aufwirft und zum Nachdenken anregt. Zum Beispiel über das Spannungsfeld Recht auf Schweigen über die eigene Geschichte (der älteren Verwandten) vs. legitimes Bedürfnis der jüngeren Generation, offene Fragen zu klären und damit vielleicht auch mehr Klarheit über die eigene Identität und Familienposition zu bekommen.