Ein Lesegenuss

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aennie Avatar

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Im Sommer 1955 ist ganz St. Jude in heller Aufregung. Ein Zufall hat dazu geführt, dass ein ganzer Tross voller Schauspieler, Kameraleute, Maskenbildnerinnen und anderer Filmschaffender in dem kleinen verschlafenen Nest in Ohio einfällt, um die Außenaufnahmen eines Hollywoodstreifens hier abzudrehen – natürlich mit dem Traumpaar der Saison: Jack Montgomery und Diane DeSoto. Und während die einen sich eine Statistenrolle und damit einen kleinen Hauch von Glamour erhoffen, die anderen eine Möglichkeit für einen Sommer-Job, hoffen wieder andere St. Jude damit zu einem begehrten Ausflugsziel und Wohnort zu machen – sprich Geld zu verdienen. June jedoch denkt eigentlich nur daran, dass am selben Tag wie die Traumfabrik endlich ihr Verlobter Arthur zurück zu ihr kommen soll. Doch der sitzt leider nicht im 9 Uhr-Bus, und June beginnt zu zweifeln…
Zweifelhaft ist auch die Cassies Lage, sechzig Jahre später. Sie ist Junes Enkelin, Künstlerin, Mitte Zwanzig und hat nach deren Tod das Haus „Two Oaks“ in St. Jude geerbt. Cassie hat ihre Eltern als Kind bei einem Autounfall verloren, June sie großgezogen. Seit ihrem Studium in New York hatten beide nur sporadisch Kontakt. Nun ist Cassie, getrennt von ihrem Freund Jim, künstlerisch offensichtlich in einer tiefen Krise, in das Nest gezogen, dass vor vielen Jahrzehnten nicht den erhofften Aufschwung erfuhr. Genauso wie das imposante „Two Oaks“ längst eine tüchtige Renovierung oder zumindest eine Putzorgie nötig hätte, täte dies auch Cassie gut. Sie schläft fast den ganzen Tag, ernährt sich richtig schlecht, duscht nicht mehr und lässt auch alles andere tüchtig schleifen. Doch plötzlich geraten genau wie vor sechzig Jahren, an einem Morgen plötzlich die Dinge in tüchtige Bewegung: ein junger Mann steht vor ihrer Tür und will mit Cassie reden, es geht um eine Erbschaft. Eben jener Hollywood-Beau von 1955, Jack Montgomery, soll nun plötzlich ihr Großvater sein und hat ihr eine beträchtliche Summe hinterlassen. Daran zweifeln nicht nur Montgomerys Töchter sondern auch Cassie selbst. Ihr bleibt nichts Anderes übrig, als aus ihrer Lethargie zu erwachen und zu versuchen herauszufinden, was und ob das etwas war zwischen ihrer Großmutter und dem Filmstar…
„June“ erzählt die folgende Handlung in zwei Erzählsträngen und rollt dabei die Geschehnisse des Sommers 1955 und die Nachforschungen im Jahr 2015 chronologisch fortschreitend auf. Suggeriert wird dabei, dass die Erlebnisse der Vergangenheit Cassie als Träume des altehrwürdigen „Two Oaks“ erscheinen. In Wahrheit, und das ist eigentlich auch von Beginn an klar, werden sie erzählt aus der Sicht von Linda Sue, genannt Lindie, Junes getreuem Schatten, die ebenfalls eine große Rolle bei allen Vorkommnissen damals spielte und auch bis heute einnimmt, wie Cassie irgendwann erkennen muss.
Mit hat diese Geschichte ausnehmend gut gefallen, das einzige was mich wirklich minimal gestört hat, war dieses vollkommen unnötige den Leser glauben machen wollen, Cassie würde wirklich die Ereignisse aus dem Jahr 1955 träumen, weil das Haus ihr sie eingibt. Diese Idee, des Hauses mit Eigenleben und Charakter, ist zwar ganz wundervoll und wirklich schön, aber das mit den Träumen war mir persönlich zu abgedreht – und wie sich zu Ende hin herausstellt, auch so unnötig. Ansonsten bin ich aber wirklich äußerst angetan und fand sowohl die Grundidee der Handlung als auch die Verschiedenheit der Personen wirklich gut ausgearbeitet: June, die einerseits sehr genau weiß, was sie will, großes Verantwortungsgefühl und ein Bewusstsein für die Erwartungen, die an sie gestellt werden, zeigt, die genau weiß, dass sie eine verpflichtende Bindung mit ihrer (vernünftigen) Verlobung eingegangen ist. Andererseits ist sie aber wirklich noch ein Mädchen, dass (selbstverständlich) tief beeindruckt ist von dem offensichtlichen Interesse das Jack ihr entgegenbringt. Lindie, der treue Heinrich, im wahrsten Sinne des Wortes. Die böse, böse, intrigante Diane. Tate Montgomery mit ihrer Entourage, der grünkohlmixenden Hank und dem telefonierenden Nick. Und Cassie – die man schütteln will, damit sie endlich in die Gänge kommt. Virtuell steht man so manches Mal mit der Haarbürste und dem Waschlappen hinter ihr, bevor man ihr bei der Bewältigung der Post und dem Beseitigen der Wollmäuse hilft. Um die Fledermäuse müsste sich allerdings jemand anderes kümmern. Genau wie Hank hätte es mich permanent in den Fingern gejuckt. Umso schöner der Epilog.
Für mich war June ein „Wohlfühlbuch“, ich bin in die Erzählatmosphäre wirklich immer eingetaucht, es war spannend und oft einfach „schön zu lesen“, sprachlich fand ich es wunderbar fließend und harmonisch, mich hat einfach nichts gestört und wenn einem die eine oder andere Person auf die Nerven ging – dann weil das aus meiner Sicht charakterlich so beabsichtigt war.