Archaisches Märchen in schöner Sprache

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Der 11-jährige Martin ist in seinem Dorf ein Außenseiter. Seine Familie ist unter dramatischen Umständen ums Leben gekommen, er ist der einzige Überlebende – allein das weckt den Argwohn der Dorfbewohner, die sich von Aberglauben leiten lassen. Hinzu kommt, dass der Junge permanent einen schwarzen Hahn dabei hat, der als Sinnbild des Teufels gilt… Martin ist klug, er beobachtet viel und durchschaut dadurch verborgene Zusammenhänge und Lügengeschichten der Erwachsenen. Auch das mögen jene nicht: „Seine Augen sind sehr schön. Das fällt gleich auf. Dunkel und geduldig. Alles an ihm wirkt ruhig und bedacht. Und das macht ihn den Leuten im Dorf unbequem. Sie haben es nicht gern, dass einer zu lebendig ist oder zu ruhig. Derb können sie verstehen. Verschlagen auch. Aber das Bedächtige im Gesicht eines Elfjährigen, das mögen sie nicht.“ (S. 11)

Die Welt, in der Martin lebt, wirkt fast mittelalterlich, auf alle Fälle archaisch, es gilt das Gesetz des Stärkeren. Die Kulisse wird ideal als trostlos wirkende Märchenwelt mit vielen entsprechenden Motiven dargestellt. Tod, Verderbnis und Gewalt sind omnipräsent. Man hat Angst vor dem Teufel, den Herrschenden, das Dorf ist umgeben von verwunschenen Feldern und Wäldern, in denen sagenumwobene Gestalten hausen sollen. Immer wieder werden Kinder von geheimnisvollen schwarzen Reitern verschleppt, um die sich gleichfalls dunkle Mythen ranken. Martin hat auf sich allein gestellt die Angewohnheit, hinter das Offensichtliche zu blicken. Er hinterfragt, entdeckt, kann aber auch darüber schweigen. Er verlässt sein Dorf gemeinsam mit einem wandernden Maler, dessen Bilder Martin bewundert. Er verfolgt das feste Ziel, die schwarzen Reiter zu finden, um die Kinder zu retten. Unterstützung oder Zuwendung von Erwachsenen erfährt Martin nur temporär, immer muss er auf der Hut sein. Seine Abenteuer passen in die skizzierte Zeit, deren konkrete Verortung die Autorin jedoch schuldig bleibt. Einzig der sprechende Hahn steht ihm treu zur Seite, erinnert ihn an seine Bestimmung, appelliert an seine Tapferkeit und hilft bei akuter Gefahr.

Dieses moderne Märchen mit einem durch und durch sympathischen Helden liest sich interessant und spannend. Auf seiner Reise durchs Land begegnet Martin allerlei skurrilen Gestalten und auch viel sinnloser Brutalität. Insofern würde ich als Zielgruppe dieses Buches keinesfalls Kinder ansehen. Es gibt jedoch auch humorvolle Szenen während der abenteuerlichen Reise, die sich aus Martins überlegter Klugheit und seinem unverbrüchlichen Mut ergeben. Darin kann man Elemente eines Schelmenromans erkennen, doch das Dunkle, Böse dominiert eindeutig die Handlung. Die Guten kann man an einer Hand abzählen und auch sie haben, von Martin abgesehen, ihre Schattenseiten.

Beeindruckend ist die Sprache, mit der authentisch Martins Perspektive verkörpert wird. Die Autorin nutzt einfache, zumeist kurze und klare Sätze, aus denen sie einen ausdrucksstarken Fließtext entwickelt, der treffsicher Bilder im Kopf entstehen lässt und Stimmungen transportiert. „Es regnet, aber sie haben nichts damit zu tun. Sie haben ein Dach über dem Kopf. Es gibt Arbeit und Essen. Der Hahn schläft in Martins Schoß, Gloria summt eine Melodie für das Baby, die Zeichenkohle schabt über das Blatt. Der Junge empfindet Geborgenheit.“ (S.70)

Märchen kann man immer lesen. „Junge mit schwarzem Hahn“ ist eine Auffrischung in Sachen Freundschaft, Vertrauen und Menschlichkeit sowie ein Plädoyer gegen Hass und Unrecht. Das Gute im Menschen stirbt auch in schweren Zeiten nicht restlos aus, Hoffnung gibt es immer irgendwo. Martin ist ein Held, der sich reinen Herzens trotz aller Gefahren für die Wahrheit und gegen das Böse einsetzt.

Ich habe den Roman mit Freude gelesen, allerdings keine nennenswerten Bezüge in die Gegenwart gefunden. Natürlich muss nicht jedes Buch aktuelle Anlehnungen haben, es wäre für mich hier jedoch „das Tüpfelchen auf dem i“ und damit auch den fünften Stern wert gewesen. Wer sich gerne mal wieder in einer klassischen Märchenwelt verlieren will, dem sei dieses zeitlose Buch herzlich empfohlen!