Morbide Faszination

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Leerer Stern Leerer Stern
nordlicht Avatar

Von

Hanna Jameson: Kalter Schmerz
Kurzbeschreibung (Quelle: Verlagsseite)

Nic Caruana ist einer der Besten darin, Menschen aufzuspüren – und
manchmal auch ein für alle Mal verschwinden zu lassen. Seine Jobs nimmt
er nie persönlich. Auch nicht die Suche nach der sechzehnjährigen
Tochter eines Waffenhändlers – wäre da nicht die Mutter des Mädchens
und wäre das Mädchen nicht bestialisch ermordet worden.


Autorin (Quelle: Verlagsseite)

Hanna Jameson, 22, wurde von J. G. Ballard und David Peace zum Schreiben
inspiriert. In ihrer Freizeit folgt sie Bands um die Welt, mixt in
Warteschlangen Cocktails aus dem Gedächtnis und klaut Stagedivern die
Schuhe. Aufgrund einer Vorliebe für Glitzer, Leopardenmuster und kurze
Röcke ist sie bei den meisten Gelegenheiten nicht adäquat gekleidet.
Kalter Schmerz ist ihr erster Roman.

Allgemeines

Originaltitel: Something you are
Übersetzung ins Deutsche von Andrea Fischer
Erscheinungstermin: 17.Februar 2013 im Suhrkamp Verlag (Taschenbuch, 380 Seiten)
38 Kapitel, Erzählung aus der Perspektive des Protagonisten und Ich-Erzählers Nic Caruana

Zum Inhalt

Der Prolog spielt im Jahr 2000 in London. Der siebzehnjährige Nic Caruana wird von einer Gruppe von Jugendlichen angegriffen. Es gelingt ihm, dem Anführer im Gerangel um die Uhr seines Vaters das Messer abzunehmen. In Notwehr ersticht Nic den Jungen.
Mit Ausnahme des ersten Kapitels spielt der Roman im Jahr 2010. Nic, der seinerzeit drei Jahre im Jugendgefängnis gesessen hat, hat keinen "anständigen" Beruf erlernt und verdient sein Geld mit dem Ausführen illegaler Aufträge: manchmal soll er für seine Auftraggeber Leute aufspüren, manchmal soll er Leute bestrafen (zusammenschlagen, foltern), manchmal soll er auch Menschen umbringen oder Leichen verschwinden lassen. Sein gegenwärtiger Auftraggeber ist der reiche Waffenhändler Pat Dwyer, dessen sechzehnjährige Tochter Emma verschwunden ist. Aufgrund seiner Zusammenarbeit mit einem korrupten Polizisten erfährt Nic schnell vom Fund einer schrecklich zugerichteten weiblichen Leiche, bei der es sich tatsächlich um Emma handelt. Emmas Eltern, Pat und Clare, sind am Boden zerstört. Pat beauftragt Nic, den/die Täter zu finden, um ihn/sie angemessen "bestrafen" (lassen) zu können.
Im Laufe seiner Privatermittlungen muss Nic sich nicht nur in Emmas Freundeskreis umhören, sondern auch immer wieder ihre Mutter Clare befragen. Er fühlt sich sehr zu ihr hingezogen, obwohl sie eine zutiefst gestörte Persönlichkeit ist, die nicht nur aufgrund der Trauer um ihre Tochter, sondern auch von sich aus völlig unberechenbar handelt. Nics Bemühungen, Clare zu helfen, bringen ihn auch jenseits seines üblichen Jobs in Gefahr, denn Pat hängt sehr an seiner Frau und wird nichts und niemanden in seine Ehe einbrechen lassen.

Persönliche Beurteilung

Das London, das Hanna Jameson beschreibt, ist nicht das London, das ich kenne. Nic bewegt sich in einem Dschungel aus Drogenszene, Korruption und Gewalt. Die jungen Leute in diesem Teil der Stadt haben offenbar keine Perspektiven, geben sich dem Drogenkonsum hin und/oder arbeiten selbst als Zwischenhändler für die großen Dealer. Nic nimmt keine Drogen, er kennt sich aber aufgrund der Sucht seiner Schwester Harriet in der Szene aus. Im Verlauf seiner Suche nach Emmas Mördern wird der Leser Zeuge unzähliger Gewaltakte, die Nic und sein Mitbewohner und Kollege Mark verüben. Sie gehen bei der Befragung von Verdächtigen nicht zimperlich vor, diese Brutalitäten werden detailliert beschrieben und sind für sensible Leser nur schwer zu ertragen. Nics Charakter weist unterschiedliche und widersprüchliche Facetten auf. Einerseits schlägt, foltert und tötet er ohne mit der Wimper zu zucken, andererseits verbindet ihn mit Mark eine aufrichtige Freundschaft und in seiner Liebe zu Clare hat er viel mehr ihr Wohl als seine eigenen Interessen im Blick. Trotz der Gräueltaten wirkt die Hauptfigur dieses Krimis nicht unsympathisch.
Es ist nicht einfach, zu einem Urteil über dieses Buch zu kommen: einerseits ist es oft sehr abstoßend, andererseits aber auch in der Darstellung kaputter Charaktere faszinierend. Der Erzählstil ist einfach, klar und prägnant und schnell lesbar, wobei die Autorin die Handlung gut aufbaut und es immer wieder neue Entwicklungen gibt, sodass der Leser ständig umdenken muss.
Auch die Einordnung in ein Genre ist schwierig. Es handelt sich nicht um einen Krimi im üblichen Sinn, denn die Polizei spielt überhaupt keine Rolle bei den Ermittlungen im Mordfall Emma Dwyer, man erfährt ausschließlich von den Ermittlungen des Protagonisten, die keinen Prozess und keine Haftstrafe zum Ziel haben... Eine Einordnung in den Bereich "Erzählungen" erscheint jedoch auch nicht korrekt, dafür ist der Roman viel zu blutig und brutal. Die Bezeichnung "Thriller mit psychologischer Komponente" passt wohl am besten.

Fazit

Teilweise sehr abstoßend, übt "Kalter Schmerz" dennoch eine morbide Faszination aus und kann hartgesottenen Lesern blutiger Thriller empfohlen werden. Sensiblen Lesern rate ich von der Lektüre ab, auch für Minderjährige scheint mir das Buch weniger geeignet.
Unglaublich, dass die Autorin erst 22 Jahre jung ist!
3,5 Sterne