Money makes the world go round oder "WIR WOLLEN WAS IHR HABT"

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bovary Avatar

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In seinem Roman „Kapital“ nimmt John Lanchester den Leser in die Pepys (ausgesprochen Pips) Road im Süden der Stadt London mit. Der Leser begleitet die Bewohner der Pepys Road etwa ein Jahr lang, von Dezember 2007 bis November 2008. In diesem Jahr passiert den Menschen dort so einiges, glückliches und unglückliches.
Dabei erfährt man nicht nur, dass die Strasse früher eher von Familien der unteren Mittelschicht bewohnt wurde, was durch die Witwe Petunia Howe vermittelt wird, welche schon seit ihrer Geburt vor 82 Jahren in Nummer 42 der Strasse lebt, sondern auch, dass die Strasse in der heutigen Zeit zu einer Wohngegend für
(Neu-)Reiche mutiert ist, was durch die Familie Roger Yount in der Nummer 51 dargestellt wird.
Die Häuser sind in der heutigen Zeit Millionen von Pfund wert und die Pepys Road ist zu einer Strasse von Gewinnern geworden. Aber ist sie das wirklich…?

Der Leser begleitet, ausser Petunia Howe und der Familie Yount, nämlich noch ein paar andere Personen, welche nicht nur in der Pepys Road wohnen, sondern auch einfach mit ihr zu tun haben. Seien es Arbeiter aus Polen, Kindermädchen aus Ungarn, Rogers Arbeitskollegen, Verwandte Petunias, der Einwanderer Familie Kamal aus Pakistan, welche einen Laden in der Pepys Road führen, dem Fussballwunderkind Freddy Kamo aus Afrika, oder der Politesse Quentina Mkfesi, welche aus ihrem Land flüchten musste und illegal arbeitet.
Mit diesen Protagonisten stellt Lanchester ein Bild des heutigen Londons auf. Seine Themen sind:
die Finanzkrise und das heutige Finanzsystem, welches nur noch leistungsorientiert ist und den Menschen nicht mehr sieht; das heutige Verhalten gegenüber Muslimen und wie sich diese dadurch fühlen, was ja eigentlich auch erst zu einem Teufelskreis geführt hat; wie Asylanten, welche nichts arbeiten dürfen sich fühlen und wie man in Auffanglagern behandelt wird; wie die heutige englische Polizei so ist; wie die heutige Kunstszene so tickt; wie Menschen sich in der Fremde fühlen, wenn sie ins Ausland gehen, um mehr Geld für ein späteres und besseres Leben verdienen wollen und wie es mit dem heutigen Gesundheitswesen so bestimmt ist, welches den Menschen als eine Nummer ansieht.
Zeitgleich mit dem Beginn des Romans beginnt auch eine Kampagne gegen die Bewohner der Pepys Road mit Postkarten, DVD’s, einem Blog etc.:

„WIR WOLLEN WAS IHR HABT“

welche so etwas wie eine kriminalistische Komponente mit hinein bringt, da man wissen will, wer von den Protagonisten bloss dahinter steckt.


Und das alles wurde von Lanchester in einen über 680 seitigen Roman verpackt, dessen Stil gut und flüssig zu lesen ist. In über 100 Kapiteln, welche zum Glück nie zu lang sind, springt der Leser immer wieder von einem Protagonisten zum Anderen. Und obwohl es doch ein paar Figuren gibt, ist es nicht allzu schwierig, auch immer wieder den einzelnen Lebenssträngen zu folgen. Wir erfahren wie sich die Protagonisten lieben und hassen, welche Ängste sie haben und wovon sie träumen, was sie sich vom Leben erhoffen, aber auch wozu Gefühle wie Gier und Eifersucht den Menschen treiben können.
Als Leser kann man mit den Protagonisten mitfühlen. Die Einen wird man mehr ins Herz schliessen, die anderen weniger. Aber so wirklich kennengelernt habe ich glaube ich keinen der Protagonisten, dafür war die Zeitspanne von knapp einem Jahr wahrscheinlich zu wenig oder es gab eben doch zu viele Hauptpersonen.
Nach gut 500 Seiten habe ich mir gewünscht, der Roman wäre mindestens 100 Seiten kürzer gewesen, weil es doch auch irgendwie langsam langweilig wurde und ich endlich wissen wollte, wer der Urheber der „WIR WOLLEN WAS IHR HABT“-Kampagne denn nun war.

Die Aufmachung des Buches finde ich sehr gelungen. Das Cover ist zwar ziemlich spartanisch und mehrheitlich in weiss gehalten. Doch alle die Häuser und Strassen, welche zu einer Erdkugel geformt sind, stellen ein passendes Bild für den Inhalt des Romans dar: Worum dreht sich eigentlich alles?


Fazit: Ein amüsant und flüssig geschriebener Gesellschaftsroman der der heutigen Gesellschaft – und garantiert nicht nur der englischen – einen wohlverdienten Spiegel vorhält.

„Grossbritannien war zu einem Land von Gewinnern und Verlierern geworden“
(Seite 12, Prolog)