Wenn Geschichte lebendig wird

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elke seifried Avatar

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Die Autorin spielt wie schon in ihrem ersten Roman wieder äußerst gekonnt mit zwei verschiedenen Handlungssträngen. Ich war schon von „Kranichland“ begeistert, hier legt Anja Baumheier noch einmal eine Schippe drauf.

Im Jetzt begleitet man Elise, die sich in Paris den Traum einer eigenen kleinen Boutique erfüllt hat. Sie bekommt Besuch von ihrer Freundin Magdalena, mit der sie gemeinsam in der ehemaligen DDR aufgewachsen ist. Diese bringt einen Zeitungsausschnitt mit. Entweder es findet sich innerhalb von zwei Wochen ein Investor oder Peleroich wird abgerissen. Elise ist entsetzt, ihr Heimatdorf soll dem Erdboden gleichgemacht werden, ist sie doch dort in den 60er Jahren aufgewachsen, hängen zudem so viele Erinnerungen daran, warum nur? Als sie fast zeitgleich ein anonymer Brief erreicht, in dem der Absender sie bittet nach Peleroich zu kommen, weil er sein Gewissen erleichtern will, er ihr zudem etwas Wichtiges über den Tod ihres Vaters und das Verschwinden von Jakob erzählen muss, gibt es kein Halten mehr und die beiden Freundinnen begeben sich auf die Reise in die alte Heimat.

Im zweiten Strang, der sich nach und nach aufs Jetzt zubewegt, wird man ins Peleroich der Nachkriegsjahre versetzt, lernt dort die Bewohner und ihrer Nöte kennen, wird Zeuge wie Elise das Licht der Welt erblickt, wenig später auch wie sich Freundschaften und mehr mit Henning und Jakob entwickeln und erlebt auch mit, wie schwer es für Elise ist sich zwischen den beiden zu entscheiden, Henning ist immer für sie da, mit Jakob kann sie träumen, nicht nur von Paris, sondern auch von einem freien Leben.

Was ist damals passiert, wie haben die Dorfbewohner die Zeit der DDR, den Mauerfall und auch die Jahre darüber hinaus verbracht? Was ist mit Elises Vater geschehen, warum Jakob damals verschwunden, lebt er noch, wer ist der anonyme Briefeschreiber? Das sind die Fragen, die man nach und nach beantwortet bekommt. Mit der häppchenweisen Annäherung, den Teilinformationen, dem ständigen Perspektivwechsel, gelingt es der Autorin unheimlich viel Spannung aufzubauen. Ich konnte mein Hörbuch gar nicht mehr ausschalten, musste ich doch unbedingt wissen, was geschehen ist, denn wirklich vorhersehbar ist hier so gut wie gar nichts. Zudem bekommt man fürs Herz noch eine Liebesgeschichte, die alles andere als schnulzig ist, was die Mischung zur perfekten Unterhaltung macht.

Ich selbst bin in der BRD aufgewachsen, war noch ein kleines Kind, als die Mauer fiel und deshalb interessiere ich mich sehr für das Leben in der ehemaligen DDR. Genau dieses lässt die Autorin hier mit einer Dorfgemeinschaft authentisch und hautnah miterleben. Wie erlebt der Dorfpfarrer, der sich nicht der Stasi anschließen will, Elises Papa Karl, der seinen Job verliert, und gegängelt wird, oder wie eine Oma, die sich mit ihrer eigenen Landwirtschaft nicht der LPG anschließen will, die Jahre unter der Diktatur der SED, bekommt man die klein und wenn ja wie? Wie geht es einem, der anderen zur Flucht verhilft, was tut ein Bürgermeister, der das Dorf zum Vorzeigeort machen will, wie werden die Kinder schon im Kindergarten mit sozialistischem Gedankengut geimpft? Ich habe die Geschichte gebannt verfolgt, mir ist nicht nur einmal vor Entsetzen der Mund offen gestanden, ich habe nicht selten gedacht, ja so haben sie das gemacht, wie mies, und war ganz oft betroffen von Schicksal, das die Dorfbewohner rund um Elise erfahren müssen. Auch die Jahre nach der Wende, in denen die Dorfbewohner alles andere als zu den Gewinnern zählen, haben mich unheimlich berührt.

Begeistert bin ich davon, dass der Roman so eine Fülle an kleinem Detailwissen bietet, die Geschichte so interessant, spannend und lebendig machen. Zuckersäcke auftrennen, das Garn zu Kleidern verstricken, so wurde sich nach dem Krieg beholfen, nicht in die LPG eintreten wollen, dann muss man schon mal mit Maul- und Klauenseuche im Stall rechnen, man erfährt von Manfred Krug und anderen bekannten Persönlichkeiten und deren Weg in den Westen, dass Luftmatratzen beim Baden verboten waren, die erste DDR Jeans ein Verschnitt aus braunem Cord war und vieles mehr.

Die Autorin beschreibt so lebendig, so anschaulich, ich hatte alles wie einen Film vor Augen, hatte das Gefühl mich inmitten der äußerst authentisch, gelungen dargestellten Dorfgemeinschaft bewegen zu dürfen. Elise habe ich schnell ins Herz geschlossen und deshalb habe ich auch mit ihr gefiebert, dass sie vielleicht am Ende ihre alte Liebe Jakob wiederfinden mag. Ich habe nicht nur mit Karl unter den Schikanen und Einschränkungen gelitten und mich mit ihm gefreut, dass er letztendlich sein Alkoholproblem mit neuen Aufgaben wieder in den Griff bekommt. Ich ziehe meinen Hut vor einer Isolde, die nicht kleinbeigibt mit ihrem Bauernhof, ich habe mit Pfarrer Otto gelitten, als er seine Tochter verliert. Diese hat mich so enttäuscht, weil sie ihren Sohn Jakob so im Stich lässt und den Bürgermeister mit seinen Methoden fand ich ganz schrecklich. Am meisten verblüfft hat mich sicher Ludwig, Hennings Papa und Wirt des Kastanienhofs. Alle Mitspieler haben wirklich viel Profil und sind grandios gezeichnet.

Besonders lobend erwähnen muss ich zum Abschluss auch noch Sprecher Wolfang Berger. Hat mir seine äußerst angenehme, sonore Stimme ja schon in der Hörprobe gut gefallen, hat sich dieser Eindruck nur bestätigt, ich hätte ihm noch ewig zuhören können. Es gelingt ihm äußerst gut, Emotionen zu transportieren, er verleiht den Darstellern noch mehr Profil, als diese von der Autorin schon bekommen haben und das Sprachtempo ist optimal. Nicht zu schnell zum entspannten Hören, nicht zu langsam um Gefahr zu laufen abzugleiten und wenn es die Situation erfordert, wird es auch dementsprechend angepasst.

Alles in allem begeisterte fünf Sterne für diesen fesselnd, informativen Roman, der Geschichte lebendig werden lässt und den der Sprecher zum Hörgenuss macht.