Eine schonungslose Milieustudie aus den Betonblöcken des Ruhrgebiets

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Mit Lisa Roys Roman „Keine gute Geschichte“ begeben wir uns mit der Ich-Erzählerin Arielle zurück zu ihren Wurzeln in einen Essener „Problemstadtteil“, wie wohl einige Politiker:innen es nennen würden. Dort leben in den Betonsünden der Nachkriegszeit ein großer Anteil von Menschen mit nicht deutsch klingenden Namen und Hauttönen, die eher an Beyoncé als an Helene Fischer denken lassen. Arielle ist eine von ihnen, sie weiß, ihre dunklen Haare und Augen stammen von ihrem Vater, den sie nie kennengelernt hat. Ihre Mutter ist nicht mehr da, verschwunden, wie wir zügig erfahren, denn Arielle richtet ihre Erzählung an ein „Du“, welches sich als die verschwundene Mutter herausstellt. Nun ist ihre Großmutter mütterlicherseits frisch aus dem Krankenhaus entlassen und nach mehr als zehn Jahren kehrt sie das erste Mal zurück an ihren Ursprung, dem sie den Rücken gekehrt hatte, um – mittlerweile – ihrem erfolgreichen Leben als Social Media Managerin in Düsseldorf nachgehen zu können. Ihre Heimkehr überschneidet sich mit dem Verschwinden zweier neunjähriger Mädchen, die ebenso aus dem Stadtteil stammen und deren Mütter mit Arielle in die Schule gegangen sind. Gezwungenermaßen quartiert sich Arielle eine Weile bei ihrer Großmutter ein, in deren Wohnung Arielle aufwuchs und in der ihr Mädchenzimmer von damals immer noch genauso existiert, wie sie es verlassen hat.

Lisa Roy entwirft mithilfe der hippen Sprache ihrer Ich-Erzählerin das Bild eines Milieus in der Armut von heute. Ungeschönt gibt sie uns Lesenden einen Einblick in die unterste Schicht der Gesellschaft, in der, wie an einer Stelle angemerkt, die Mietverträge in den abgeranzten Wohnungen des Viertels ebenso von einer Generation an die nächste weitervererbt werden wie die Armut und das Übergewicht. Hinter solchen saloppen Feststellungen stecken natürlich gut erforschte soziologische Erkenntnisse, die sich in den letzten Jahren immer mehr bewahrheitet haben: Wer einmal in der Armut steckt, hat kaum Chancen einen sozialen Aufstieg zu schaffen; im Gegenteil geht die Spirale im Zweifel eher abwärts. Arielle ist da eine Ausnahme, sie hatte Glück, war als junge Frau mit ihrem miesen Assistentinnenjob in einer Werbefirma zufällig am Puls der Zeit, als sich die Werbung ins Internet und zu den Influencer:innen bewegte. Nur konnte sie nie das Gefühl abschütteln, eine Hochstaplerin zu sein, die man irgendwann bloßstellen, ihr ihre Herkunft anmerken würde. So zeichnet Roy mithilfe von Erinnerungen Arielles an ihre Kindheit, Jugend und die Zeit in Düsseldorf nach, wie sich diese junge Frau in immer stärker in eine Depression hineinbewegt hat und erst kurz vor dem Anruf, welcher sie in die Wohnung der Großmutter holte, von einem mehrmonatigen Psychiatrieaufenthalt entlassen wurde. Von dort ist sie keinesfalls wie neu geboren zurückgekommen, leidet weiterhin an depressiven Episoden, verkriecht sich nun in ihrem alten Mädchenzimmer mitunter für Tage, oder geht hinaus ins Viertel, macht Bekanntschaft mit John, dem Vater von Ashanti, einer der verschwundenen Mädchen.

Trotz des mitunter hingerotzten, mit zeitgemäßen Anglizismen und auch Sarkasmus gespickten Tons von Arielles Beschreibungen, verdeutlicht Roy sehr klug, wie dieses Milieu, aus dem Arielle stammt, funktioniert. Welche ungeschriebenen Gesetze es gibt, welche vorgezeichneten Lebenswege. Dabei handelt es sich nicht um eine happy-go-lucky Geschichte, in welcher die Großmutter eine warmen, altersweise Funktion einnimmt. Nein, es ist vielmehr relativ schnell klar, dass sich Arielle bestmöglich von dieser Person befreien muss. Aber dafür muss sie zurück gehen, zurück an den Ort ihrer Herkunft aber auch zurück in ihren Erinnerungen. Die Erinnerungen an die Mutter, die mit sechs Jahren enden, die aber durchgängig positiv sind. Eine Spannung des Romans wird nicht nur durch die Annäherung Arielles an die Frage, was damals wirklich mit ihrer Mutter, sondern auch, was in der Gegenwart mit den verschwundenen Mädchen passiert ist, angetrieben. So sagt Arielle an einer Stelle:

„Wenn das hier ein Krimi und nicht mein Leben wäre, würde ich über dich und dein Verschwinden als Puzzle nachdenken. Ich habe ein paar Teile, ein paar sind für immer verloren, aber irgendwo muss es auch noch welche geben, und wenn ich die fände, wäre vielleicht genug vom Puzzle zusammen, um das Bild zu erkennen, auch wenn es ein unvollständiges bleibt.“

Gegen Ende nimmt die Erzählung, die sich zuvor wirklich sehr differenziert mit dem Milieu beschäftigt und Arielles Aufwachsen hat, tatsächlich immer mehr an Spannung zu, fühlt man sich fast in einem Thriller, in dem sich immer mehr Indizien auftun. Leider gibt es hier für mich den einzigen Kritikpunkt am ansonsten wirklich erfrischenden, klugen, mutigen Roman Roys: Arielle bekommt Kenntnis von einem ungeheuerlichen Umstand, der mit dem Verschwinden der Mädchen zusammenhängt, und alles was sie tut, ist wieder in ihr altes Muster zurückzufallen, sie verkriecht sich in ihrem Mädchenzimmer für mehrere Tage und hat Sex mit John. Das wirkt an dieser Stelle aber so abwegig, auch wenn man sich das passive, desinteressierte Verhalten mit der depressiven Grunderkrankung der Protagonistin erklären könnte. Vielleicht wollte die Autorin hier ein Zeichen setzen, dass es sich eben nicht um einen Krimi oder Thriller handelt, trotzdem konnte ich bei dem Fortgang der Geschichte nicht mehr so richtig mitgehen.

Trotz dieses einen Kritikpunktes ist der Debütroman der Autorin über das Aufwachsen in den grausten und rausten Ecken des Ruhrgebiets mit seinem Blick auf den Zusammenhang von Armut und Abstammung ein fraglos empfehlenswertes Buch. Mit erfrischend junger Sprache stellt es den Fokus scharf und regt zum Nachdenken über diese scheinbar fest zementierten Lebenswege an.

4,5/5 Sterne