Keine gute Geschichte, aber verdammt gut erzählt

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waschbaerprinzessin Avatar

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Die Grundlage des Plots kennt man aus so vielen anderen Romanen und Filmen, dass es sich schon um ein Klischee handelt: Jemand hat es eigentlich geschafft, verliert jedoch plötzlich alles wieder und kehrt an einem Tiefpunkt seines Lebens in die alte Heimat zurück, um zwischen Kindheitstraumata und Familiengeheimnissen wieder zu sich selbst zu finden. Was die von Lisa Roy in „Keine gute Geschichte“ entworfene Variante dieses Szenarios so besonders macht, sind die Protagonistin, der Handlungsort und vor allem der Schreibstil der Autorin: Direkt, zynisch und voll bitterbösem Humor lässt sie die Erzählerin das Aufwachsen in einem Essener Brennpunktviertel und die Zustände dort ein Jahrzehnt später schildern. Arielle betrachtet alles schonungslos, beschönigt nichts und nimmt kein Blatt vor den Mund.

Auf den ersten Seiten bleibt das Lachen aufgrund der drastischen Sprache vielleicht noch kurz im Hals stecken, aber wenn man sich erst einmal daran gewöhnt hat, dass die Erzählerin keinerlei Wert auf auch nur ansatzweise diskriminierungsfreie Sprache legt, macht es ungemein viel Spaß, die Welt und insbesondere das Ruhrgebiet aus ihrer Perspektive zu betrachten. Vor dem geistigen Auge schießen Dönerbuden, Wettbüros und Goldankaufstellen empor und man kann sich die Bewohner des Viertels lebhaft vorstellen. So unsympathisch sie teilweise auch auftreten mögen – die Protagonistin eingeschlossen – fühlt man doch mit ihnen mit und entwickelt Verständnis für sie und ihre Situation.

Neben der Darstellung der prekären Lebensumstände in Katernberg und wie die dort lebenden Menschen damit umgehen und wie sich ihre Leben entwickeln, sind auch die Einblicke in Arielles Karriereweg als Social Media Managerin und die Beschreibung ihrer Depression sehr gelungen. Die Gefühlszustände der Protagonistin werden ebenso erlebbar gemacht wie der Handlungsort und die Lächerlichkeit von Arielles Branche wird gnadenlos vorgeführt.

Während mich der Schreibstil, die Figuren und die Darstellung des Lebens in einem sogenannten Brennpunkt im Ruhrgebiet restlos begeistert haben, hat auf der Plotebene für mich jedoch nicht alles funktioniert. Natürlich braucht Arielle einen Grund, an den verhassten Ort ihrer Kindheit zurückzukehren, doch davon, dass ihre Großmutter sich gerade den Oberschenkelhals gebrochen haben soll, merkt man im Laufe der Handlung eigentlich gar nicht wirklich etwas. Auch die verschwundenen Mädchen, mit denen die Geschichte einsetzt, geraten immer mehr zur Nebensache, die sich dann auch einfach mal so nebenher aufklärt. Ich hatte das Gefühl, dass diese Elemente nur eingeflochten wurden, um die Protagonistin nach Katernberg zu bringen und ihr Zusammentreffen mit den übrigen Figuren zu begründen. Was genau mit den Mädchen passiert ist, blieb mir zu vage und die Verstrickung bestimmter Personen in die Angelegenheit, die ich aus Spoilergründen nicht näher erläutern kann, erschien mir doch recht unglaubwürdig. An dieser Stelle setzt Roy einen zu viel drauf, die verschwundene Mutter hätte gereicht, die verschwundenen Mädchen hätte es aus meiner Sicht nicht gebraucht.

Auch wenn der Plot für mich nicht immer ganz stimmig war, war Lisa Roys Roman „Keine gute Geschichte“ für mich ein großes Lesevergnügen und wird es bestimmt auch für all jene sein, die sich nicht an einer Extraportion Zynismus und einer flapsigen Wortwahl stören und Lust auf einen absolut zeitgemäßen deutschen Roman haben, der abseits von Berlin spielt.