Verstrickt in Herkunft und Milieu

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern
bücherhexle Avatar

Von

Äußerlich scheint es die etwas über dreißigjährige Arielle geschafft zu haben, ihren trostlosen Wurzeln zu entkommen: Sie hat eine stramme Karriere in der Welt der sozialen Medien hingelegt, ihr Konto ist gefüllt, sie ist attraktiv und trägt ausschließlich Designerklamotten. Wäre da nur nicht die Tatsache, dass sie erst kürzlich für drei Monate wegen Depression „in der Klapse“ war, wo man sie notdürftig wieder zusammengeflickt hat. Nun muss sie sich ungeplant ihrer Herkunft stellen, die sie so gerne ausradieren und vergessen möchte: Man ruft sie zurück ins Problemviertel Essen-Katernberg, weil die Großmutter Varuna Hilfe braucht. Arielle wurde von ihr aufgezogen, seit sie fünf Jahre alt war. Damals verschwand ihre Mutter Rita spurlos, der Vater ist unbekannt. Als Arielle in der Heimat ankommt, sind vor Kurzem zwei kleine neunjährige Mädchen verschwunden, was nicht nur die Menschen im Wohngebiet, sondern auch Arielle innerlich aufwühlt und ihre verdrängten Gefühle aufbrechen lässt. Immer wieder wendet sich die Ich-Erzählerin an ein namenloses Du, das sie nicht loslässt und zweifelsfrei für ihre Mutter steht.

Der Roman strahlt von der ersten Seite an eine enorme Authentizität aus. Mit derben, deutlichen Worten legt die Erzählerin die Welt ihrer Kindheit bloß, die auch die Welt der verschwundenen Kinder ist. Die Ruhrgebietstristesse, die trostlosen Nachkriegsbauten, die Armut mit hohem Migrationsanteil, die Verwahrlosung und Perspektivlosigkeit, all das wird mehr als deutlich: „Im Norden angekommen, saßen in der Straßenbahn türkische Großmütter, die seit 50 Jahren in Deutschland lebten, aber aussahen, als wären sie gestern aus Anatolien eingeflogen, und deutsche Männer, die selbst gestochene Knast-Tattoos trugen und die ersten vier Bier intus hatten.“ (S.16) Die Erzählerin beschreibt drastisch, sie laviert nicht herum. Besonders die Dialoge lassen den Bildungsbürger zusammenzucken. Zunächst fühlt man sich im falschen Film, doch nach und nach wird klar, dass Arielle bewusst provoziert, um ihren eigenen Problemen und Verletzlichkeiten zu trotzen. Sie ist eine zutiefst gestörte Persönlichkeit, die versucht, sich mit Zigaretten, Alkohol und Sex zu betäuben, bzw. sich zu beweisen, dass sie noch am Leben ist.

Varuna lebt mit ihren Katzen in einer kleinen dunklen Wohnung. Das Teenagerzimmer blieb unverändert, obwohl Arielle mindestens seit zehn Jahren nicht hier war. Schnell spürt man die Spannungen zwischen den beiden Frauen, die unerledigten Konflikte, den unterschiedlichen Blick auf die verschollene Rita. Arielle hat signifikante Begegnungen mit ehemaligen Schulkameradinnen. Melanie, die Mutter der verschwundenen Lara, ist eine von ihnen. Ihre Feststellung, „Man kann ein Mädchen aus der Gosse holen, aber nicht die Gosse aus dem Mädchen.“, (S.20) wirkt prophetisch, eine gemeinsame Kindheit schafft zwangsläufig Verbundenheit.

Der Roman verzahnt die gegenwärtige Ebene mit der vergangenen. Latent leidet Arielle darunter, von der Mutter verlassen worden zu sein. Die Kindheit bei der Großmutter verlief lieblos, war unter den gegebenen Umständen aber die beste Alternative. Arielle hat frühen Missbrauch erlitten, sie schwieg, kannte ihre eigenen Grenzen nicht. Der Ausflug in die kapitalistische Glitterwelt der Likes und Follower hat sie mit ihrer Schlagzahl überfordert. Die Vergangenheit stand auf einmal wieder vor der Tür, führte Arielle in psychiatrische Behandlung. Zurück in Essen-Katernberg reißen die verschwundenen Mädchen alte Narben wieder auf. Arielle beginnt zu recherchieren, um ihre Mutter besser kennenzulernen, um zu verstehen, warum sie einst gegangen ist. Dabei hatte sie sie doch geliebt, oder nicht?! Die Ungewissheit um Ritas Schicksal zermürbt die Tochter: „Mit dir hätte ich anfangen müssen, damit, wie dein Verschwinden mich ausgehöhlt hat und ständig weiter aushöhlte, (…) bis einfach zu wenig von mir übrig geblieben war, um noch zu funktionieren.“ (S. 96)

Während einen die Protagonistin am Anfang abstößt, entwickelt man zunehmend Verständnis für ihre schroffe, aggressive Art, die sie einsetzt, um von sich selbst abzulenken und eigene Schwachstellen zu vertuschen. Dabei ist der Roman selbst in einem glasklaren, sehr ansprechenden Stil verfasst. Die Ich-Erzählerin reflektiert und kombiniert sehr intelligent, was eigentlich nicht zu ihrem rüden Umgangston passt. Gerade diese Ambivalenz macht den Roman besonders. Das Milieu mit seinen Menschen wird lebensecht gespiegelt, es wirkt sehr ungeschönt und realitätsnah. Manchmal darf man auch schmunzeln: „Vor einem Publikum aus gläubigen Moslems und Karteileichen-Christen spielten wir (im Krippenspiel) die Geburt des Messias nach.“ (S. 171) Meist bleibt einem vor lauter bitterem Sarkasmus jedoch das Lachen im Halse stecken.

Gute Literatur muss wehtun. Der Autorin gelingt es hervorragend darzulegen, was Armut, Milieu und Bildungsferne mit den Menschen machen. Es sind nicht nur die Aufstiegschancen, die fehlen, sondern man kommt in Folge auch viel zu früh mit (sexueller) Gewalt, Alkohol oder Drogen in Berührung – alles Dinge, die die Spirale nach unten beschleunigen. Es wird überaus deutlich, wie sehr jeder Mensch von seiner Herkunft abhängt und wie stark familiäre Verstrickungen auch über mehrere Generationen fortwirken. Diese Offenlegung gelingt Lisa Roy ohne jede Larmoyanz. Sie lässt die Ich-Erzählerin einfach ihre Geschichte erzählen. Dass sich Arielle im Zuge ihrer Nachforschungen zudem immer näher an die Geheimnisse rund um die Vermissten annähert, gibt dem Roman einen zusätzlichen Kick und zum Ende hin fast eine kriminalistische Note. Auch das ist sehr gekonnt konstruiert.

Ich bin zutiefst beeindruckt von diesem Debüt. Die Komplexität der Figuren lässt ein Schwarz-/ Weißdenken nicht zu. Arielle ist keine Sympathieträgerin: zu bissig, verletzend und empathielos tritt sie auf. Aber je mehr man von ihrer Geschichte kennt, umso mehr Verständnis keimt für diese einsame, bindungsunfähige, versehrte junge Frau auf. Sie ist ungemein gut gezeichnet. So wie alles um sie herum auch. Man wünscht ihr, dass sich in der Zukunft doch noch ein kleines bisschen Glück für sie ergeben möge. Dieses Buch verändert die Einstellung der Protagonistin gegenüber, indem es einen differenzierten Blick hinter die Fassaden einfordert. Diesen vorurteilsfreien Blick sollte sich jeder Leser auch im täglichen Leben bewahren.

Große Leseempfehlung an alle Literaturfreunde, die sich mit diesem jungen, außergewöhnlichen Roman aus ihrer eigenen Wohlstandsblase hinausbewegen und Scheuklappen ablegen wollen.