Minimalistisch treffend und außergewöhnlich

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joolescooper Avatar

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Nach den ersten zwanzig Seiten erwarten die Leser*innen ein Eintauchen in die Psychologie der jungen Mutter Jiyoung und eine Erklärung dafür, wie es zu ihrer scheinbaren dissoziativen Störung kurz nach der Geburt ihrer Tochter kommt. Diese Erwartungshaltung erfüllt der Roman, aber ganz anders als gedacht.
Die Autorin erzählt die Lebens- und Familiengeschichte der Protagonistin: wie sie und ihre Eltern in die Welt kamen, welche Hürden ihnen begegneten, welchen Rahmenbedinungen sie als junges Mädchen im Korea der 90er Jahre ausgesetzt ist, welche Herausforderungen sie als junge Frau meistern muss. Das alles geschieht so unaufgeregt, dass die eingestreuten und durch Fußnoten belegten Fakten zur Gesellschaftsstruktur Koreas überhaupt nicht unpassend erscheinen.
Korea ist weit weg von Mitteleuropa. Es ist interessant Dinge über dieses ferne Land und seine kulturellen Traditionen zu lernen. Und gerade deswegen erscheinen so ziemlich alle Situationen, in denen sich Jiyoung wiederfindet auf eine erschreckende Weise universell. Vor allem als Mitte der 1980er Jahre geborene Frau, die zur ersten Generation in der Familie mit Universitätsabschluss gehört, habe ich mich in Jiyoung widergespiegelt gefühlt. Viele kleine Begebenheiten erscheinen beim Lesen absurd, passieren aber tagtäglich genau so - hier wie da. Zum Beispiel als Jiyoung ein Taxi nimmt, um rechtzeitig zum Bewerbungsgespräch zu kommen und der Taxifahrer eine gönnerhafte Bemerkung macht, als sie sprachlos sexistischen Äußerungen gegenübersteht und schließlich als sie und ihr Mann in ihrem Vorhaben scheitern gleichberechtigt die kleine Familie zu ernähren.
So zeichnet Cho Nam-Joo in ihrem Roman ein Porträt einer Frauengeneration, das eigentlich ziemlich deprimierend ist, wenn man bedenkt, wie weit sich der Feminismus schon entwickelt hat. Auch in Korea gibt es Gesetze gegen Geschlechterdiskriminierung und in Deutschland darf es auf dem Papier weder Gender-Pay- noch -Care-Gap geben. Es gibt sie aber trotzdem - Diskriminierung, Lücken, Ungerechtigkeiten, Sexismus und die fehlende Reflexion darüber. Am Ende bleibt der Gedanke: Es gibt noch viel zu tun! Wenn man an die anderen Frauenfiguren im Roman zurückdenkt - Jiyoungs Mutter, Schwiegermutter, Großmutter, Schwester und Kolleginnen -, bleibt aber auch eine starke Hoffnung darauf, dass wir alle etwas tun können und dass wir auf einem vielleicht langen, aber zuversichtlichen Weg sind.
Sehr starker Roman, der es sicherlich wert ist, von vielen gelesen zu werden und hoffentlich in einigen Jahrzehnten als historisches Relikt erscheinen kann.