Toller Auftakt, ich freue mich jetzt schon auf die Fortsetzung

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elke seifried Avatar

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Lernt man Marlene als glückliches Kind, das den sechsten Geburtstag feiert, kennen, heißt es ein paar Stunden später, „Mitten in der Nacht wachte sie auf. Der Mond schien durch die Fensterluke aufs Bett, es roch seltsam, unangenehm. Sie schob ihre Hand in die ihrer Mutter und erschrak! Die Hand ihrer Mutter fühlte sich steif und kalt an, viel kälter noch als an Wintertagen, wenn Elisabeth Lindow auf den Kartoffeläckern gearbeitet hatte.“ Man wird ergriffen Zeuge davon, wie die Mutter stirbt, Marlene ihre kleine Schwester Emma packt und die beiden aus Angst ins Waisenhaus zu kommen, davon laufen. Dann macht die Geschichte einen Zeitsprung und die beiden Mädchen verlassen ein Waisenhaus, um das sie auch in Berlin nicht herumgekommen sind, in dem sie aber Glück hatten, um ihre Ausbildung als Kinderkrankenschwestern an der Kinderklinik Waisensee anzutreten.

Als Leser darf man mit ihnen dieses Jahr der Ausbildung erleben, muss sich mit ihnen als Waisen immer wieder besonders behaupten und bei der Ausbildung dem Drill durch die Oberin Polsfuß bei der bei jedem Gegenüber gilt, „Es fiel ihr nicht leicht, dem Blick einer Person, die einem das Blut in den Adern gefrieren ließ, länger standzuhalten.“, standhalten. Außerdem darf man mit Marlene von einem Studium zur Ärztin träumen und sich zudem mit beiden verlieben, beides Lieben, die nicht ohne Tränenvergießen und Enttäuschungen vonstattengehen. Mehr wird nicht verraten.

Sehr gut hat mir auch gefallen, wie die Autorin den historischen Hintergrund – es regiert Kaiser Wilhelm in Preußen, der Imperialismus ist zu spüren - in den Roman einbindet. Die Rolle der Frau, denn es gilt »Bisher gibt es viel zu wenig Frauen in deutschen Hörsälen, …«, und längst nicht alle sind darüber böse, die Ausbildung als Elevin zur Rotkreuzschwester und auch die Anfänge der Kinderheilkunde hat Antonia Blum gründlich recherchiert und so bekommt man auch kleine Details, wie z.B. dass zur Klinik eine angeschlossene Milchkuranstalt gehörte, in die man blicken darf, oder auch Informationen zum Alltag, wie »Schauen wir uns danach dann mal diesen neuen Tango-Tanz zusammen an?«, fragte sie wohl wissend, dass Tango in vielen vornehmen Häusern auf Ablehnung stieß. Neulich hatte Stationsschwester Hertha, der Marlene in den Nachtdiensten unterstellt war, von diesem neuen Tanz erzählt, der aus Buenos Aires über Paris nach Berlin gekommen war und den der Kaiser in allen Gazetten als »frivoles Geschiebe« verteufelte. »Es wäre mir ein Vergnügen«,präsentiert. Zudem erlebt man den interessant aufbereiten Klinikalltag mit und erfährt so einiges über die Behandlung der Kleinen bei diversen Krankheiten mit. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang sicher auch das Nachwort, in dem man zusätzliche Informationen findet und erfährt, was real und was fiktiv ist. Ja tatsächlich gab es den Arzt mit Namen Buttermilch, wer hätte das gedacht.

Die Autorin weiß, wie sie ihre Leser emotional an den Roman fesselt. Schon mit dem ergreifenden Prolog, der einem das Herz fast zerreißt, greift sie dabei in die Vollen. Im späteren Verlauf sind es Ungerechtigkeiten und Bosheiten, wie »Und wo wir schon dabei sind, Marlene. Das nächste Mal überlegst du dir besser zweimal, ob du Maximilian von Weilert in der Vorlesung wirklich antwortest. Ansonsten verrate ich euer kleines Geheimnis der gesamten Schwesternschaft!«, Standesdünkel wie, »Einen Moment noch: Sollten Sie meiner Bitte nicht entsprechen oder meinem Sohn von unserem Gespräch berichten, werden wir sämtliche Spendengelder von der Kinderklinik Weißensee abziehen.« oder Ungerechtigkeiten wie, »Marlene, Sie werden für die nächsten acht Wochen zu den Waschmägden und zum Putzen ins Isolierhaus zwangsversetzt«, die einen entsetzt und erzürnt mitleiden lassen. Auch an Spannung hat es nie gemangelt. Marlene soll Medikamente verwechselt haben, das kann nicht sein, wer steckt dahinter, warum setzt sich der Direktor so für die Mädchen ein, wer ist der Vater der beiden, ist es das geheime Tagebuch der Mutter, das man immer wieder in kleinen Auszügen lesen kann, werden die beiden sich als Waisen unter den anderen Elevinnen, die zumeist aus wohlhabenden Familien stammen, beweisen können, hat Marlene Tomasz verwechselt, wird es eine Chance für die Liebe zwischen einem adeligen Arzt und einer Waise geben? Das sind nur einige der Fragen, die mich gebannt lesen haben lassen. War ich mir fast sicher, dass ich bei vielen davon schon die Antwort wisse, hat mich die Autorin nicht nur einmal eines Besseren belehrt, was mich angenehm überrascht, teilweise auch verblüfft hat. Der lockere, anschauliche und gefühlvolle Schreibstil von Antonia Blum hat mich äußerst gut unterhalten und die Seiten sind nur so geflogen. Das war mein erstes, sicher aber nicht das letzte Buch aus ihrer Feder.

Die Autorin hat bei ihren Charakteren ganz viel Herzblut an den Tag gelegt. Sie sind allesamt authentisch gezeichnet, viele mit einem einnehmenden Wesen ausgestattet und ich habe am meisten mit Marlene, die wohl auch die Hauptrolle spielt, gelebt und gelitten. Aber auch Emma und ihr zu Beginn so inniges Verhältnis zueinander, das auf eine harte Probe gestellt wird, bieten genügend zum mitfiebern. Beide entwickeln sich realistisch im Verlauf der Geschichte. Aber auch die Mischung der anderen Mitspieler ist in meinen Augen einfach nur gelungen, beim liebenswerten Pförtner angefangen mit seinem Wellensittich, »Und der Jacki bekommt bei zu viel Uffrejung Schnappatmung. Und wenn der Jacki keene Luft kricht, bekomm ick och keene.«, der so herrlich berlinert angefangen, über eine Marie-Luise, der man am liebsten Gift geben würde, nicht nur wenn sie Marlene den Wein über die Bluse kippt und dann Worte wie, Was starrst du mich so an, Brillenschlange?« Marie-Luise zog damenhaft an ihrem dünnen Zigarillo, als sei nichts gewesen. »Ich sagte doch, du stehst im Weg. Solche wie du stehen immer im Weg!« Marie-Luise blies Marlene Rauch ins Gesicht. »Und außerdem ist es um den Fetzen, den du da trägst, sowieso nicht schade.«, hinterher schiebt bis hin zu Tomasz, der mich mit seinen Kuhwitzen wie „Warum haben Kühe oft eine Glocke um den Hals? Damit sie beim Fressen nicht einschlafen.“ oft schmunzeln hat lassen, und mich mit seinem Verhalten zwar enttäuscht, aber dennoch irgendwie für sich einnehmen konnte.

Alles in allem ein ergreifend, fesselnder und äußerst gelungener Auftakt zu einer Trilogie. Ich freue mich schon sehr auf die Fortsetzung und deshalb kann es für mich nichts anderes als fünf Sterne geben.