Schießen Sie los, junger Mann

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"Schließlich erspähte ich zwischen einer Mama-Puppe und einem Kinderdreirad das Päckchen mit der Aufschrift Box 620 Agfa Clack. Obwohl ich mir noch nie einen gewünscht hatte, wusste ich plötzlich, dass mir ein Fotoapparat zu meinem Glück fehlte, und zeigte darauf."

Zum Glück eines jeden Menschen gehören vor allem auch glückliche Erinnerungen. Kostbare Momente die man aufbewahrt. Im Gedächtnis, aufgeschrieben im Tagebuch oder als Bild im Fotoalbum. Markus, ein pubertierender fünfzehnjähriger, trifft unbewusst eine weitreichende Entscheidung. Von einem Freilos, dass er auf dem Ostermarkt gewonnen hat, sucht er sich als Gewinn die Kamera „Agfa Clack„. "Eine exquisite Wahl" lobt der Budenbesitzer und spornt mit den Worten: "Schießen Sie los, junger Mann" zum Fotografieren an. Und Markus lässt sich nicht lange bitten. Das erste „Opfer“ des vermeintlichen Paparazzo wird die eigene Schwester Hanna, die sich unerlaubterweise bei einem Fahrgeschäft mit "Negermusik" aufhält.

Klaus Modick ruft allein in seinem Epilog dutzende Erinnerungen an die 1960er Jahre wach. Songtitel, Werbeslogans, Kosmetikprodukte, Zeitschriften. Längst vergessen geglaubte Namen und Begriffe steigen aus den Seiten empor und kitzeln in der Nase wie der Staub der Erinnerungen den sie aufwirbeln. Modick hat sich für seinen unterhaltsamen Roman die Spanne von Ostern 1961 bis zum November 1962 ausgesucht. Ein Zeitraum der einiges bereit hält: Mauerbau, Rüstungswettlauf, Kuba Krise um nur drei der weltbewegenden Ereignisse zu nennen. Dazu kam in Deutschland die noch die Sturmflut im Winter und die Fernsehsensation „Das Halstuch“ von Francis Durbridge.

Diese epochalen Ereignisse erlebt man mit Markus bzw. anhand seiner „Schnappschüsse„ die jedem Kapitel in einem Epilog vorangestellt werden. Sehr schön gelingt so der Blick vom Großen auf das Kleine. Anhand der Fotos lässt der Autor „Erinnerungsquellen sprudeln“. Vom Checkpoint Charlie zum Stachelbeerkompott mit Schlagsahne. Von den Mauertoten zum „fernsehenden Deutschland“ mit Mettigeln und Käse-Trauben-Spießchen. Vom umschwärmten Präsidenten Kennedy zu den misstrauisch beäugten „Spagettifressern“ in der Nachbarschaft.

Ausgerechnet Clarissa, die Tochter der italienischen Gastarbeiterfamilie Tonetti, raubt Markus Herz und Verstand. Um den Enkel vor „den Zigeunern“ zu schützen, lässt die Großmutter zunächst einen Stacheldrahtzaun und später sogar eine Mauer zwischen den Grundstücken ziehen. Indes der „Checkpoint“ im Garten nutzt nicht viel und die „Flucht“ gelingt dem Jungen auf vielfältige Weise.

Es ist ein reicher Fundus, ein opulentes Album das Modick hier aufblättert. Eine Reise in die Vergangenheit unseres Landes und seiner Menschen. Im Epilog zu seinem Kapitel über „Weihnachten 1961“ schreibt der Autor: „Es gibt keine reinen Fakten der Erinnerung. Sie bleibt immer eine Konstruktion, ein Mosaik aus Beobachtungen, Reflexionen, Sprache, Bildern, Klängen, Reizen und Gefühlen, eine sich ständig verändernde, instabile Collage.“ “Klack” ist eine solche Collage, wenn auch nicht instabil und sich ständig verändernd. Humorvoll, gut formuliert, interessant und intelligent. Die feine Kunst einer bemerkenswerten Lektüre.