Hab's geliebt und gefühlt und gelitten und gelacht

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fraedherike Avatar

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„Die Leerstellen zwischen dem, was wir wollten, und dem, was wir bekamen, füllten wir mit einer höflichen Scham dem Leben gegenüber, wie bei einem Geschenk, das uns eigentlich gefallen müsste, es aber nicht tat.“ (S. 59)

Nach der Schule beginnt der Ernst des Lebens, heißt es immer. Dann sind wir erwachsen, stehen auf eigenen Beinen, können tun und lassen, was wir wollen. Wir freuten uns so sehr auf dieses DANACH, auf dieses Leben, das wir uns schon so lange ausgemalt hatten, das hier, wo wir lebten, aber nicht möglich war. Hier waren wir der Rest, keine klassischen Loser, eher eine undefinierbare Füllmasse, Mounia, Leon und ich. Aber wir hatten auch Angst. Jeden einzelnen Tag. Das Verhältnis zwischen mir und meinen Eltern war schwierig in diesen letzten Monaten. Sie trennten sich, da war mein Bruder noch klein, und das hatte mir schon früh gezeigt, dass nichts im Leben beständig war. Wenn man so mag, war unsere Existenz der einzige Grund, wieso sie sich noch bemühten, den Schein zu wahren. Zusammenreißen mussten wir uns. Wie unsere Eltern schon; es war das Erbe, das wir zu tragen hatten. Mein Trotz war leise, meine Scham ein weißes Rauschen.

„Von meinem ersten Gehalt kaufte ich mir einen dunkelblauen Rollkragenpullover, denn ich war jetzt erwachsen. Nach der ersten Wäsche schrumpfte er auf die Größe eines Schneidebretts. Ich hätte gerne weinend meine Mutter angerufen, aber das ging als Erwachsene jetzt leider nicht mehr.“ (S. 70)

Von einem Tag auf den anderen stand uns die Welt offen. Tschüss, du triste Ödnis der Heimat, hallo Großstadt! Wir waren zusammen hierhergezogen, Mounia, Leon und ich, um zu studieren. Insgeheim war ich bedrückt, weil ich gehofft hatte, meiner Jugend alleine entfliehen zu können, mich neu zu erfinden. Aber irgendwie war’s dann doch ganz cool, nicht alleine zu sein. Weil, naja, ich bin doch trotzdem noch ein Kind! Und wenn ich mein Konto betrachte: eines mit Schulden. Und einem eingelaufenen Pullover. Irgendwie hatte ich mir dieses Erwachsensein anders vorgestellt. Ich warte auf die Regieanweisungen des Lebens, doch bis dahin bin ich nur eine Statistin ohne Text.

„Das erste Jahr in der großen Stadt war achtlos an uns vorbeigelatscht wie eine Passantin, während wir in der Spiegelung eines Ladenfensters überprüfen, ob wir gut aussahen (nein).“ (S. 193)

Ich weiß noch, wie aufgeregt ich war, als ich die Zusage zu meiner ersten eigenen Wohnung bekommen habe; da war ich dreiundzwanzig. Anders als bei der Protagonistin aus Ilona Hartmanns Roman „Klarkommen“ zog ich aber nicht in die Großstadt, sondern nur ein paar hundert Meter Luftlinie weiter im selben Bezirk, und dennoch fühlte es sich unendlich krass an. Eine Wohnung ganz für mich alleine, in der ich tun und lassen konnte, was ich wollte (solange es die Nachbarn nicht störte oder Fenster dabei zu Bruch gingen), und endlich wirklich richtig „erwachsen“ sein. Auch wenn das Gefühl auch vier Jahre später noch nicht wirklich in meinem Kopf angekommen ist, und ich mein Leben gegenwärtig als ein ewiges „Was bisher geschah“ betrachte, losgelöst, ungewiss ob der Zukunft und meinem Platz darin.
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All das sind auch Gedanken, die die Erzählstimme von „Klarkommen“ umtreiben, auch wenn wir sonst nicht viel gemein haben. Nach dem Abitur und dem Umzug in eine neue, eine große Stadt, versuchen sie und ihre Freund:innen Mounia und Leon, ihre Jugend hinter sich zu lassen, dieses „Erwachsensein“, das ihnen in Filmen und Büchern immer suggeriert wurde, fernab ihres perspektivlosen Heimatdorfes zu finden. Doch während Mounia und Leon scheinbar problemlos einen Schritt vor den anderen setzen, hat die Erzählstimme größere Päckchen zu tragen. Ihre Eltern waren geschieden, das Schweigen und Hinnehmen seit jeher Teil der Erblinie; sie war eine Bildungsaufsteigerin, demütigen Blickes bedacht. Und: sie hatte Angst. Vor dem Älterwerden, davor, etwas falsch zu machen, falsche Entscheidungen zu treffen. In dieser neuen Welt nicht klarzukommen. Und dann noch die Liebe, ach.
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Hätte ich mitgezählt, wie oft ich mich in diesem Text wiedergefunden habe, ich hätte meine Socken ausziehen müssen zum Zählen, denn beide Händen hätten nicht gereicht. Ich musste so oft peinlich berührt bis melancholisch verträumt grinsen oder lauthals auflachen, gegen den Kloß im Hals anschlucken oder stumm nicken ob der Erlebnisse und Erinnerungen der Protagonist:innen, die Ilona Hartmann so lebensnah, klar und präzise eingefangen hat. Ihre Sprache ist lakonisch, humorvoll und frech, bisweilen von einer intensiven, verlangsamenden Stille, die Höhen und Tiefen auslotend. Ich musste immer an diesen einen Song von Nina Nesbitt denken, in dem sie singt: My life's uncertain and sometimes it's strange / But one thing I've learned is it won't stay the same / Even in the darkness, I'll be okay / The sun will come up, the seasons will change - und so findet auch die namenlose Protagonistin ihren Weg, unmerklich, die Rollen kehren sich um. Ein:e jede:r von uns. Ein wundervoller Text, der von Freundschaft erzählt, vom Kindsein und Erwachsenwerden, von Abschieden und Neuanfängen und dieses besondere Lebensgefühl wie kein anderes einfängt. Große Empfehlung!