Die Verstrickungen des Lebens und die Facetten der Mutterschaft

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"Es lief immer auf ein und dieselbe Frage hinaus: Was machte jemanden zu einer Mutter?"

Es brennt bei den Richardsons. Das jüngste Kind Isabelle hat in jedem Schlafzimmer ein Feuer gelegt, und das imposante Anwesen wird durch das Feuer vollständig zerstört. Isabelle bleibt verschwunden. Und die Richardsons wissen: Sie werden in den kommenden Wochen Gesprächsthema Nummer eins im wohlhabenden Clevelander Vorort Shaker Heights sein.

Kunstvoll spannt Celeste Ng den Erzähbogen: Der Hausbrand bildet Anfangs- und Endpunkt der Geschichte, ist Rahmen, Dreh- und Angelpunkt. Ist man zunächst auf die Perspektive "Izzy is durchgedreht" beschränkt, ergibt sich innerhalb dieses Rahmens bald ein komplexes Geflecht aus Ursachen und Wirkungen, aus menschlichen Beziehungen und Reaktionen. Ng ist eine Meisterin darin, uns die Handlungen unterschiedlichster Menschen begreiflich zu machen. Sie verfolgt die Ursprünge zurück bis zu den Wurzeln, sodass man keiner Figur jemals wirklich böse sein kann - denn alle sind sie getrieben von etwas zutiefst Menschlichem. Die Entwicklung ihrer Charaktere ist beispiellos, und alle Persönlichkeiten, Beziehungen und Reaktionen sind so logisch aufgeschlüsselt, dass keine Fragen bleiben. Man hat bei "Kleine Feuer überall" das Gefühl, viel mehr Seiten gelesen zu haben, als es tatsächlich sind, denn Ng versteht es, auf wenig Platz unterschiedlichste Lebensgeschichten zu erzählen. Wir folgen nicht nur den Richardsons, sondern auch ihren Mietern Mia und Pearl Warren, die auf das Leben der Familie einen unumkehrbaren Einfluss ausüben werden. Wir machen Ausflüge zu anderen Figuren, wie Bebe Chow, den McCulloughs, dem Rechtsanwalt Ed Lim. So erfahren wir unheimlich viel, jede Figur hat eine Geschichte und wirkt dadurch plastisch. Das ist bemerkenswert.

Ng widmet sich in ihrem Roman wichtigen, brisanten Themen. Da wären einerseits die gegensätzlichen Lebensentwürfe der RIchardsons und der Warrens. Erstere leben schon immer in Shaker Heights, sind ziemlich wohlhabend, besitzen ein großes Haus und vier Autos, wechseln alle vier Jahre ihre Wohnzimmergarnitur. Zweitere sind moderne Nomaden, die von Mias Einkünften als Küstlerin (Fotografiin) und diversen Nebenjobs leben. Ihr Sofa besteht aus weichen Kissen auf dem Boden. Ng prangert keinen der Lebenswege an oder stellt einen als richtig und den anderen als falsch dar, sie leuchtet sie lediglich grell aus, sodass wir als Leser jedes Steinchen und jeden Grashalm am Wegrand erkennen können. Und aus diesen Lebenskonzepten ergeben sich natürlich Spannungen, die die Familien unwiderruflich aneinanderketten. Pearl beschreibt das am Ende des Buches folgendermaßen: "Pearl dachte an Moody, an Lexie und Trip, die Fäden, die sie auf unterschiedliche Weise mit ihnen verband. In den folgenden Jahren, im Verlauf ihres Lebens, versuchte sie wiederholt, diese Fäden zu entwirren, und stellte jedes Mal fest, dass sie hoffnungslos ineinander verschlungen waren." Bessere Worte kann man für die vielfältigen Verbindungen kaum finden. Jede Person geht daraus verändert hervor.

In dieses komplexe Beziehungssystem mischen sich auch immer Diskussionen über Rasse und Ethnie. Geschickt bringt Ng in einem Sorgerechtsprozess die schmerzhaften Fragen unter: Warum gibt es keine chinesischen oder schwarzen Barbiepuppen? Warum sind chinesische Menschen in Kinderbüchern immer karikativ dargestellt? Wie wichtig ist die Ursprungskultur für die Erziehung eines Kindes? Sehnen wir uns nicht alle danach, in der echten Welt gespiegelt zu werden, und sei es nur in einer Puppe? Die Richardsons beispielsweise geben sich betont "tolerant" - immerhin hat die älteste Tochter Lexie einen schwarzen Freund! Der wiederum will um jeden Preis jede Kategorisierung "schwarz" vermeiden, weshalb er auf Lexies Schwangerschaftsträumereien wütend reagiert - nur schwarze Männer sind so dumm und unvorsichtig, ihre 18-jährige Freundin zu schwängern, da gehört er nicht dazu! Und weiß im gleichen Moment nicht, dass sie schon längst schwanger ist und mit der Entscheidung hadert, abtreiben zu lassen. Auf solche Weise verstricken sich Ng Figuren ungewollt, ungeahnt in Problemen, in Streitigkeiten, und nur der Leser kennt am Ende die umfassende Wahrheit. Oder vielleicht auch nicht? Denn immerhin steckt hinter jeder Fassade noch so viel mehr...

Das für mich zentralste Thema des Buches war allerdings das Muttersein. In "Kleine Feuer überall" gibt es so viele (Nicht-)Mutterrollen, wie es Frauen gibt. Die Frauen stehen ganz klar im Fokus von Ngs Arbeit, es ist eine weibliche Geschichte. Der Schmerz und die Freude des Mutterwerdens, die unendliche Trauer über den Verlust, die schweren Entscheidungen, die Unfähigkeit, ein Kind zu gebären. Um diese Themen, und viele weitere (wie gesagt, so viele Mutterrollen wie Frauen), dreht sich die Geschichte.
Da ist Elena Richardson, die problemlos ihre Großfamilie verwirklichen konnte - jedoch mit großer Sorge um ihr letztes Kind Izzy.
Da ist Linda McCullough, die sieben Mal schwanger war und jedes Mal einen Abgang hatte - nun sehnt sie sich nach nichts mehr, als nach einer Adoption.
Da ist Madeline Ryan, die ohne Gebärmutter geboren wurde - und nun nach einer Leihmutter sucht.
Da ist Mia, die Pearl über alles liebt - ihr aber nicht den sicheren Hafen bieten kann oder will, den sie bei den Richardsons zu finden glaubt.
Da ist Lexie, die mit 18 schon von Kindern träumt - und dann eine schwere Entscheidung treffen muss.
Da ist Bebe Chow, die in ihrer Verzweiflung ihr Kind weggibt - und dann auf Vergebung und eine zweite Chance hofft.
Was heißt es also, Mutter zu sein? Machen biologische Komponenten die Mutter aus oder die Liebe? Wer hat das Vorrecht? Darf man Mütter nach ihrer Eignung beurteilen? Ng ist damit in meinen Augen ein großer, ein wichtiger Frauenroman gelungen - in folgendem Sinne: ein Roman für jede Frau, ob sie Mutter ist, sein will, oder nie werden will. Eine Studie der Weiblichkeit, ein Roman rund ums Frausein, ohne es plakativ zum Thema zu machen.


Celeste Ng hat es wieder geschafft: Sie hat mich begeistert. Ich konnte das Buch kaum aus der Hand legen, und jetzt warte ich sehnsüchtig auf den Nachfolger. Denn das kann Ng: tiefgreifende Charakterstudien betreiben, gesellschaftskritische Themen neu erzählen, die Frauen in den Fokus stellen, jedem Handeln einen Sinn verleihen. Sie ist eine Meisterin des logischen und gleichzeitig gefühlvollen Erzählens. Einfach perfekt.