Elterliche Traumata

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alasca Avatar

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Ein Vorfall in der Schule ist der Auslöser für eine familiäre Krise: Der neunjährige Luca soll eine Mitschülerin belästigt haben, schweigt sich aber, von Lehrern und Eltern befragt, aus. Was im Klappentext wie die zentrale Story des Romans klingt, erweist sich bei der Lektüre eher als Rahmen für das eigentliche Motiv.

Jakob, Lucas Vater, und seine Mutter Pia reagieren höchst unterschiedlich auf den Vorfall. Jakob glaubt ohne Wenn und Aber seinem Sohn, Pia ist verunsichert. Der Grund dafür ist ein Trauma aus ihrer Kindheit: Der Tod ihrer jüngsten Schwester Linda. Die Familie scheint das Unglück mit Schweigen zugedeckt zu haben. Pias bruchstückhafte Erinnerungen deuten Verstörendes an; dazu scheint zu passen, dass sie in der Gegenwart keinen Kontakt zu ihrer Adoptivschwester Romi mehr hat, die offenbar eine TV-Größe geworden ist.

Der Roman setzt sich mit einer Reihe von Themen rund um Mutterschaft, Familie und Geschwisterbeziehungen auseinander. Es geht um Adoption, um Ausgrenzung und die Schwierigkeiten, die durch die unrealistischen Erwartungen der Gesellschaft an Mütter ausgelöst werden. Es geht um die Frage, ob man wirklich alle Kinder gleich viel (und vor allem bedingungslos) lieben kann. Ein weiteres Motiv ist die Verständnis- und Erfahrungslücke zwischen Menschen, bei denen die eine ein schweres Trauma erlitten und der andere eine "Bullerbü-Kindheit" erlebt hat. Wie es Kinder beeinträchtigen kann, wenn ihre Eltern ihre eigenen Probleme nicht verarbeitet haben und in der familiären Konstellation ausagieren, das zeigt Lind mit ihrer sensiblen Darstellung dieser Kleinfamilie.

Die Geschichte wird aus Pias subjektiver Sicht erzählt – und so viel sei verraten: Pia ist keine zuverlässige Erzählerin. Dabei liest der Text sich leicht und unterhaltsam und entwickelt Spannung aus der Frage, was in Pias Ursprungsfamilie schiefgelaufen ist. Lind fesselt mit einer klaren, schnörkellosen Sprache ohne Manierismen und mit scharfen Beobachtungen. Ihre Figuren sind vielschichtig und dicht dargestellt und kommen glaubwürdig rüber. Man ist ganz nah dran an Pia, teilt ihre Zweifel, Ungewissheiten und Ohnmachtsgefühle. Sie will das Beste für ihren Sohn – nur: Was ist das Beste?

Umso überraschender kam für mich die Entwicklung im letzten Drittel. Hier legt die Autorin den Turbo ein - und urplötzlich hagelt es Erkenntnisse wie Reis bei einer Hochzeit. Das fand ich schade – es ging mir zu schnell und war mir nicht genügend unterfüttert. Das offene Ende war mir infolge zu optimistisch – und die hoffnungsvolle Zukunftsvision kam mir aus der Anlage der Figuren heraus eher unwahrscheinlich vor. Dennoch, Linds Story bringt einen dazu, Parallelen zum eigenen Leben zu ziehen und bietet eine Menge Denkstoff.

Insgesamt habe ich trotz Irritationen den Roman sehr gerne gelesen und mich auf hohem Niveau gut unterhalten gefühlt. Vielleicht keine Lektüre für nüchterne Realisten oder Zyniker, eher etwas für Positiv-Denker und Optimisten.