Keine leichte Kost...

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Erwartet habe ich hier einen Roman, der sich um die Frage dreht, was wirklich in dem Klassenzimmer vorgefallen ist - und welche Dynamik sich daraus innerhalb von Lucas' Familie, unter den Eltern der Mitschüler:innen und in der Klasse selbst entwickelt. Zu Beginn orientiert sich der Roman auch tatsächlich an diesem Geschehen. Lucas Eltern werden von seiner Klassenlehrerin zu einem Gespräch gebeten, in dem sie darüber informiert werden, dass ein Mädchen berichtet habe, dass etwas passiert sei, als sie mit Luca alleine im Klassenraum war. Es bleibt bei Andeutungen, die Emotionen der Erwachsenen übernehmen sofort die Regie.

Erzählt aus der Ich-Perspektive von Lucas Mutter Pia kommt es zunächst zu der erwarteten Dynamik. Der siebenjährige Luca schweigt zu dem Vorfall, wie es so seine Art ist, die Eltern sind auf ihre Fantasie angewiesen. Und während der in sich ruhende Vater geneigt ist, daran zu glauben, dass nichts Schwerwiegendes vorgefallen ist und die Mücke bitte nicht zu einem Elefanten aufgeblasen werden sollte, schlägt Pias Fantasie zunehmend Kapriolen, bis sie das Schlimmste annimmt und der festen Überzeugung ist, ihren Sohn im Grunde gar nicht zu kennen.


"Jakob liegt falsch, wenn er sagt, dass Schweigen nicht Lügen ist. Schweigen ist noch schlimmer. Ich weiß, wovon ich rede." (S. 94)


Rasch wird deutlich, dass eher Pia das Problem ist als der kleine Luca. Um die Verhaltensweisen und Reaktionen von Pia zu verstehen, taucht der Roman bald schon ab in ihre eigene Kindheit, in ein Leben mit zwei Schwestern - eine schon lange tot, zu der anderen besteht seit Jahren kein Kontakt mehr. Zahlreiche Details tauchen aus der verdrängten Erinnerung wieder auf, eine bedrückende Atmosphäre auch beim Lesen. Ein Gebot des Schweigens von Seiten der Eltern, als es zu einem traumatischen Ereignis kam - und als danach alles anders wurde. Und die Folgen ihrer Kindheit und insbesondere des Traumas wirken bei Pia bis heute nach, unverarbeitet aber präsent. Bestimmte Ereignisse oder auch Verhaltensweisen von Luca in der Gegenwart triggern Pia offenbar und lösen irrationale Reaktionen aus, die sich wiederum auf das Verhältnis von Pia und ihrem Sohn auswirken.

Bei allem Verständnis für die Auswirkungen von unverarbeitetn Traumata muss ich leider gestehen, dass ich mit Pia nicht warm wurde. Ihre Gedanken kreisen weniger um Luca sondern eher um sie selbst, um die eigene Vergangenheit - und um das, was andere denken oder sagen könnten. Dabei nimmt sie immer den schlimmsten Fall an und setzt ihn als gegeben voraus, wohl um für alles gewappnet zu sein. Pia geht stets gleich in eine Verteidigunshaltung, in die Vollen, da ist immer gleich Wut, kein Zuhören, kein Austausch - das macht es anderen auch schwer, auf sie zuzugehen. Sie versucht ansonsten stets zu handeln wie sie glaubt dass es ihr Gegenüber möchte - und wenn das nicht gelingt, macht sie zu, wird schnippisch, laut, wendet sich ab. Wie es Luca geht, dafür hat sie dagegen meist gar kein Empfinden. Das war für mich stellenweise schwer auszuhalten.


"Die Liebe ist keine Selbstverständlichkeit für mich. Die Mutterhaut, die ich trage, passt nicht wie angegossen. Ich bin nicht Aschenputtel, ich bin eine ihrer Schwestern, die sich erst die Ferse abschneiden muss oder den großen Zeh. Und (...) ich weiß, dass Luca etwas Besseres verdient hat." (S. 57)


Der Roman lässt sich flüssig lesen und entwickelt eine untergründige Spannung - die Frage, was wirklich in der Klasse vorgefallen ist, als der siebenjährige Luca und seine Mitschülerin dort alleine waren, und auch die Frage, was seinerzeit mit einer von Pias Schwestern wirklich geschah und wie es dazu kam, hält einen beim Lesen bei der Stange. Die oftmals düstere Atmosphäre wirkt in der Tat bedrückend, die emotionalen Abgründe v.a. von Pia sind authentisch herausgearbeitet.

Das Geschehen im Klassenzimmer, das der Klappentext hervorhebt, ist für mich tatsächlich nur der Auslöser des sich verändernden Verhältnisses von Pia zu ihrem Kind. Ich hätte erwartet, dass diese Situation mehr im Vordergrund steht, die doch deutlich andere Entwicklung hat mich gelinde gesagt sehr überrascht. Der Schluss des Romans ließ mich zudem unbefriedigt zurück - nach einem heftigen Vorfall plötzlich dann zu schnell, zu lapidar, zu viele offen bleibende Enden.

Ein eindringliches, bedrückendes Leseerlebnis, definitiv keine leichte Kost - man möchte Pia dringend eine Therapie ans Herz legen und dem kleinen Luca eine ausreichende Resilienz wünschen...


© Parden