Eine kleine literarische Perle – gekonnt erzählt und in Szene gesetzt

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smartie11 Avatar

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„Dann wird es still in der Nacht, und dann endlich geschieht es, weil die Musik die Barrikaden seiner Seele geschleift hat, dass Jakob niedersinkt und erstmals seit dem Abschied von Marie seinen Tränen freien Lauf lässt.“ (S. 117)

Meine Meinung:
Auf einem Alpenpass, mitten im Schneegestöber, bleiben Max und Tina mit ihrem Auto liegen. Eine lange, einsame, kalte und dunkle Nacht im Auto steht ihnen beiden bevor und Max beginnt, Tina die Geschichte von Jakob Boschung und Marie-Francoise Magnin zu erzählen, die sich in diesem abgelegenen Teil der Alpen vor mehr als 200 Jahren genau so zugetragen haben soll…

Alex Capus versteht es wirklich, Geschichten zu erzählen! Seine Idee, eine Geschichte in einer Geschichte zu verpacken, ist zwar nicht neu, gefällt mir aber sehr gut und ist sehr gelungen umgesetzt. Seine Protagonisten mochte ich von Anfang. In der Gegenwart haben wir das Ehepaar Max und Tina, die sich in den großen Fragen des Lebens schon immer einig waren, bei den kleinen Dingen des Alltags aber meist in Diskussionen und kleine Streitereien verfallen. Ganz herrlich alltäglich ist beispielsweise ihre Disput darüber, wann man die Scheibenwischer anzustellen hat (und wann eben nicht). Doch auch wenn die beiden sich immer wieder kabbeln, merkt man doch im Verlauf der Geschichte, wie nah sie sich sind und wie liebevoll sie auch nach den vielen gemeinsamen Jahren noch immer miteinander umgehen können. Da sind diese kleinen Gesten, Berührungen und die Gabe, sich auch ohne Worte zu verstehen. Wunderbar.

In der Vergangenheit dreht sich diese Geschichte um den einsamen Kuhhirten Jakob, der schon früh seine ganze Familie verloren hat, und die selbstbewusste Marie-Francoise Magnin, die Tochter des reichsten Bauern im Tal. Capus erzählt die Geschichte ihres Lebens und verwebt sehr gekonnt historische Fakten und Persönlichkeiten mit seiner fiktiven Story und gibt dem Schicksal von Jakob und Marie somit einen realen Rahmen. Der Leser erfährt etwas von den Kinderschuhen der Luftfahrt, als die Gebrüder Mongolfier ihren ersten Ballon steigen lassen , von den erheblichen Umweltbelastungen durch den Ausbruch des Vulkans Laki oder auch von den dramatischen Vorwehen der französischen Revolution. Dabei zeichnet er Bilder der damaligen Zeit, die nichts mit der so weit verbreiteten verklärten Romantik zu tun haben. Das Schloss Versailles ist zu dieser Zeit eben nicht das strahlende Märchenschloss, sondern ein von Ruß geschwärztes, stellenweise verkommenes Bauwerk, umgeben von verwilderten Parkanlagen und bewohnt von einem Adel, der schon längst die Verbindung zur Realität verloren hat – und alle Sitten und den Anstand noch dazu.

Es ist eher eine Geschichte der leisen Töne, die Capus hier durch Max erzählt und ich mag Max´ Art zu erzählen und Tinas´ Art, mal kritisch, mal sehr interessiert nachzufragen. Das sorgt für Abwechslung und Unterhaltung. Capus verfügt dabei über einen unglaublich eingängigen, leichten und poetischen Schreibstil und einen ganz wunderbaren, meist unaufdringlichen Humor („Ich werde froh sein, wenn du eingeschlafen bist, dann kann ich besser erzählen.“ - S. 36). Darüber hinaus würzt Capus seine Geschichte immer wieder mit Worten, die mir neu sind und die ganz hervorragend zu dieser Geschichte passen und ihr einen eigenen Charakter verleihen, wie etwa „vergandete Äcker“, die „mesmerisierte Marie“ oder auch eine „neoalemannische Alpenhelvetik“ (S. 156).

Nur mit dem Ende der Geschichte war ich zuerst ein wenig unzufrieden, kam es für meinen Geschmack doch viel zu schnell, ja fast schon überstürzt daher. Man hätte beinahe das Gefühl haben können, Capus hätte die Lust am Schreiben verloren und seine Geschichte möglichst fix beenden wollen. Je länger ich aber darüber nachgedacht habe, desto besser hat das Ende der Geschichte um Jakob und Marie zum Ende der Geschichte von Max und Tina gepasst – denn ein ganz besonderer Zauber war verflogen.

Alles in allem aber ein Buch, das mich ganz wunderbar unterhalten hat!

FAZIT:
Ein ganz wunderbar erzähltes Kleinod der modernen Literatur.