Über die Kraft des Erzählens

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scarletta Avatar

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Beim Titel von Alex Capus' neu erschienen Roman "Königskinder" klingt wohl vielen die in mehreren Ländern bekannte Ballade der beiden sich liebenden Königskindern im Ohr. "Es waren zwei Königskinder,/ die hatten einander so lieb,/ sie konnten beisammen nicht kommen,/ das Wasser war viel zu tief." Ganz tief im europäischen Gedächtnis, in der griechischen Sage von Hero und Leander, ist dieses Motiv verankert.

Zunächst aber begleiten wir das Ehepaar Tina und Max, das bereits seit 26 Jahren zusammen ist, während es verbotenerweise über den zunehmend verschneiten Jaunpass in der Schweiz fährt. Es kommt wie es kommen muss, mitten in der Nacht rutschen sie sanft von der Straße in den Graben. Dort müssen sie im tiefen Schnee, ohne Handynetzempfang und mit der Einsicht, dass es im Auto drinnen wärmer und sicherer ist, auf den Räumdienst am nächsten Morgen ausharren.

Über die großen Dinge des Lebens herrscht wohl Einigkeit, doch ansonsten dominiert eher eine stichelnde bis zänkische Stimmung zwischen ihnen. Während die beiden nun den elementaren Kräften der Natur in der Nacht ausgesetzt sind, greift Max zu einem uralten Hilfsmittel. Schon immer hat das Geschichtenerzählen Menschen Trost und Ablenkung gespendet, unterhalten, geklärt, erklärt und auch gerettet (man erinnere sich an Scheherazade).

Seine Geschichte beginnt in einer entlegenen Sennhütte genau an jenem Alpenpass im Jahr 1779. Hier im Greyerzerland, wo die Sprachgrenze zwischen deutsch- und französischsprachiger Schweiz verläuft, verliebt sich der wortkarge, eigenbrötlerische junge Kuhhirt Jakob ausgerechnet in Marie-Françoise, die Tochter eines reichen Bauern drunten im Tal. Natürlich schreitet der Vater handgreiflich gegen die Verbindung mit dem bitterarmen Naturburschen ein. Die beiden Verliebten bleiben stur, doch Jakob muss sich vorerst für Jahre in den französischen Militärdienst verdingen.

Über Jahre scheinen die beiden wie die Königskinder aus der Sage unüberbrückbar getrennt, bis aus tatsächlich königlicher Hand eine Zusammenführung möglich ist. Ausgerechnet seine Fähigkeiten als Kuhhirt bringen Jakob nach Versailles an den Hof von Ludwig XVI .
Kriege und Revolutionen rauschen an Jakob und Marie vorbei, ihr Leben bleibt innigst mit der Natur verbunden und von den Umwälzungen fast unberührt.

Wie Tina lauscht man als Leser dem Erzählstrom von Max, möchte wie diese ab und zu die Möglichkeit von Zwischenfragen haben. Tina bohrt - manchmal auch mal wieder extrem nervig- nach.
Gab es Prinzessin Elisabeth und ihren Bauernhof wirklich? Rasch recheriert - tatsächlich. Ist die Geschichte von Jakob und Marie eigentlich wahr?
Das klärt Max schon ganz am Anfang: "Wobei es gar nicht so wichtig ist, ob eine Geschichte wahr ist oder nicht. Wichtig ist, dass sie stimmt." (S. 19)

Die fantasievolle, poetische  Erzählweise hat mich in ihren Bann gezogen. Wie die beiden Eingeschneiten vergaß ich Raum und Zeit um mich herum.
Eine Geschichte über die große Liebe, die die schwierigsten Zeiten überdauert, die alltägliche Plänkeleien übersteht - und das Erzählen von Geschichten, einer der ältesten Kulturtechniken überhaupt.

Mich hat das Buch über ein paar Stunden von einer Erkrankung abgelenkt. Leicht verschneite Abkühlung bei 30 Grad...

Zwei Fragen sind mir dennoch geblieben: Den Sand auf dem Coverfoto fand ich thematisch merkwürdig. Was haben Tomaten in einem einfachen abgelegenen Schweizer Bauerngarten um 1780 zu suchen?