Gegenwart und Erinnerung

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„Ich kann an nichts anderes denken. Immerzu sehe ich die blassen Füße von Louis vor mir. Wie sie unter der Rettungsdecke hervorragen. So Schutzlos. Seine Pantoffeln, verloren in dem ganzen Durcheinander, der Panik. Seine Füße, so verletzlich, während er in den Krankenwagen geschoben wird.“

Nachdem Friedas Mann überraschend stirbt, kommt sie ins Pflegeheim. Hier entscheiden nun andere über das Leben der 81-Jährigen, bestimmen wann sie schlafen und essen soll oder gewaschen werden muss. Ihr Sohn kümmert sich um das Notwendigste, zeigt aber wenig Verständnis für die Bedürfnisse seiner Mutter. Und Frieda, die um Louis auf ihre Art trauert, verliert sich an den langen und einsamen Tagen in Gedanken an eine andere Zeit – und eine andere Liebe: Es sind die Sechzigerjahre, die junge Frieda arbeitet als Floristin und wohnt noch Zuhause bei ihren streng katholischen Eltern. An einem Winternachmittag lernt sie durch Zufall Otto kennen. Er ist älter als sie, vielleicht reifer – und verheiratet. Trotzdem erleben sie zusammen die Liebe. Doch was stürmisch beginnt, wird schicksalhaft enden: Frieda wird schwanger – ein Skandal in der Welt, in der sie sich bewegt. Bereits vor der Geburt verliert die junge Frau Wohnung, Arbeit und Familie, wird von der Gesellschaft ausgestoßen und geächtet. Sie wird ihrem heimlichen Kind nie Mutter sein. Jahrzehntelang behält sie die Erinnerungen an diese Episode ihres Lebens für sich. Doch die Trauer um das verlorene Baby bleibt, trotz der späteren Heirat, trotz des Sohns, den sie noch bekommt. Und hier, in ihrem stillen Zimmer im Pflegeheim, trifft sie der Gedanke an zwei kleine Füßchen mit einer Wucht, die sie schier zwingt sich dem Geschehenen zu stellen – und es zu teilen.

„Kontur eines Lebens“ erzählt im Wechsel von Gegenwart und Erinnerung, vergleicht das Damals mit dem Heute und lässt so das Bild einer bigotten Gesellschaft entstehen. Frauen wurden (werden?) gleichermaßen vom Wissen über Empfängnisverhütung ferngehalten und dafür bestraft, wenn sie wider Erwarten (und Wunsch) schwanger werden. Besonders die katholische Kirche spielte hier eine wenig rühmliche Rolle im Umgang mit „gefallenen Mädchen“ und ihren unehelichen Kindern. Tabuisiert und (beinahe) vergessen wird die Geschichte von Vielen zum scheinbaren Einzelfall. Aber all das hat Methode. Allein in Deutschland trugen Frauen bis weit in die 70er Jahre häufig allein die finanzielle Not wie gesellschaftliche Ächtung, während die Väter der Kinder ihr Leben sorglos (?) weiterführen konnten. Dass Frauen nach wie vor den Großteil der Care-Arbeit tragen und Männer noch immer über ihre Körper und die zugehörige Moral entscheiden, ist schlicht ein Skandal. Umso bemerkenswerter finde ich, dass Jaap Robben sich diesem Thema mit so großer Empathie gewidmet hat und es so ungeschönt aufs Tableau bringt. Er skizziert Friedas Situation im Pflegeheim und verbindet das Ende eines Lebens mit dem Beginn eines neuen. Diese Verdichtung um ungeplante Schwangerschaften, die sich – auch in Deutschland – alle durch Zeitzeug:innen-Berichte belegen lassen, erzählen von Gewalt unter der Geburt und den Spätfolgen von Traumata, sind aber zugleich sorgfältig recherchierte Sozialgeschichte der 60er Jahre in den Niederlanden. Ich habe das Buch sehr geliebt – und am Ende sehr geweint. Große Leseempfehlung!

Fantastisch aus dem Niederländischen übersetzt von Birgit Erdmann.