Schon lange wurde ich nicht mehr so berührt ...

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räuberin Avatar

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... wie von Frieda, der Protagonistin des Buches.
Mit ihren 81 Jahren ist Frieda nicht mehr ganz fit und wurde von ihrem wesentlich rüstigeren Mann Louis umsorgt, umso unerwarteter kam sein plötzlicher Tod. Weil sie nicht mehr alleine in der Wohnung bleiben kann, zieht sie in ein Heim um, während ihr Sohn Tobias beginnt, die Wohnung, die seine Eltern 50 Jahre lang bewohnt haben, auszuräumen.
Körperlich mag Frieda nicht mehr auf der Höhe sein, dafür geistig umso mehr – und ihre Sturheit ist äußerst lebendig. Während sie sich schwer tut mit dem neuen Lebensabschnitt im Heim, beginnt sie, sich an früher zu erinnern, die Zeit, bevor sie ihren Mann kennen lernte – und denkt an den verheirateten Otto, mit dem sie eine Affäre hatte und von dem sie Anfang der 60er schwanger wurde.

Jaap Robben schafft es, sich so sehr in seine Protagonistin hinein zu versetzen, dass es mir schwer fiel zu glauben, dass ein Mann diesen Charakter geschrieben hat. Vor allem die Passagen, die von der Geburt und der Zeit danach handeln, sind so aufwühlend, so schmerzhaft realistisch beschrieben, dass ich mit Frieda mitgelitten habe.
Doch auch die anderen Charaktere zeichnet der Autor feinfühlig und detailliert (bis hin zu den "Tattoo-Ärmeln" von Friedas Pfleger), hier gibt es keine Allgemeinplätze oder platten Beschreibungen.

Ja, schon lange hat mich keine Protagonistin – noch dazu eine, deren Lebensrealität ich so gar nicht teile – so sehr berührt wie Frieda. Sie ist in jungen Jahren ungestüm, stur, manchmal egoistisch, lebensfroh und eingesperrt in den Grenzen und im Korsett der Gesellschaft, die ihr als junger Frau eine bestimmte Rolle zugesteht, die Frieda aber nicht so recht passen mag, weil sie so viel mehr ist.
Besonders berührt hat mich ihre Geschichte vielleicht auch, weil ich die Parallelen zu meiner eigenen Großmutter sah, die immer wieder davon erzählte, wie es damals war, als alleinerziehende Mutter, als unehelich schwanger gewordene Frau, die in eine Ehe gedrängt wurde. Frieda ist also nicht nur eine Romanfigur, sondern steht stellvertretend für so viele andere Frauen, die genau das in den 50er und 60er Jahren erlebt haben (was der Autor dann auch noch in einem beigelegten Brief an die Leser:innen schildert).


Wer also ein Faible für realistische, lebensnahe Geschichten ohne Kitsch und Verklärung und die Zeit der 50er/60er Jahre hat, dem sei das Buch dringend ans Herz gelegt.
Ich jedenfalls flog nur so über die Seiten und konnte das Buch nicht mehr aus der Hand legen – und hoffe, dass noch weitere Bücher des Autors ins Deutsche übersetzt werden.