Risse und Furchen - im Boden und in den Herzen

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Leerer Stern
schneeglöckchen_gk Avatar

Von

Nach fünf Jahren ohne nennenswerten Kontakt kehrt Jirka auf das Hofgut seiner Familie zurück. In der Glut der Sommerhitze brechen alte Wunden auf, neue Konflikte treten zu Tage und drei junge Menschen kämpfen unter dem Dach des Gutshauses mit- und füreinander.
Jirka, seine ältere Schwester Malene und Leander sind seit Kindertagen eine Schicksalsgemeinschaft. Gemeinsam sind sie auf dem landwirtschaftlichen Betrieb aufgewachsen. Jirkas und Malenes Mutter starb früh, sie wuchsen mit der kalten Großmutter und dem brutalen Vater auf. Auch Leander hat seinen alleinerziehenden Vater als Kind verloren und war Teil des lieblosen Haushalts. Nachdem Malene für ihre Ausbildung den Hof verlassen hat, wurde Jirka aufs Internat geschickt und hat den Kontakt zur Familie fortan gemieden. Nun kehrt er zurück. War seine größte Angst ursprünglich das Wiedersehen mit dem Vater, rückt dies durch dessen Abwesenheit immer weiter in den Hintergrund. Stattdessen lässt seine Schwester ihn deutlich spüren, dass sie Jirka eigentlich gar nicht auf dem Hof haben will und die alte Vertrautheit zwischen den Geschwistern längst zerbrochen ist. Während die Dürre Furchen in die Erde brennt, wird die Erzählung des trägen Alltags auf dem Hof immer wieder von Schnipseln und Erinnerungen aus der Vergangenheit unterbrochen, die tiefe Risse in Jirkas Innerem offenbaren.

Zu Beginn des Buches stolpert man als Leser*in blind durch die Geschichte. Man folgt ergeben den Schilderungen Jirkas und schwebt trotzdem lange Zeit in Unwissen. Die Rückblenden in die Kindheit lassen nur erahnen, wie viel Schmerz und Wut die Charaktere mit sich herumtragen. In der zweiten Hälfte ändern sich die Dinge plötzlich. Jirka und Malene führen ein erstes richtiges Gespräch und scheinen langsam wieder eine Verbindung zueinander aufzubauen. Im letzten Drittel wird es dann sehr ereignisreich. Traumata aus der Vergangenheit werden endlich nachvollziehbar und der Bund zwischen den Dreien wird durch neue Vorfälle noch enger. Es ist, als hätte das Flirren vor einem Gewitter bereits die ganze Zeit in der Luft gelegen, kaum merklich zwischen den Zeilen versteckt. Zum Ende hin entlädt sich die Spannung in markerschütterndem Donner und dem reinigenden Regen eines heftigen Gewitters.

Agnes, die auf dem Hof verbliebene Großmutter, ist in den fünf Jahren Abwesenheit stark gealtert und hat Demenz. Spielte die kalte und harte Frau in der Kindheit von Jirka und Malene eine entscheidende Rolle, so taucht sie nun häufig nur als stumme, senil lächelnde Randfigur im Roman auf. Für mich war verwunderlich, welches Wissen Jirka über Demenz hat und wie besonnen er in vielen Momenten den Zustand der Großmutter analysiert (von dem er erst nach Ankunft auf dem Hof erfahren hat und die Entwicklung der Krankheit nicht mitbekommen hat). In Anbetracht des Zeitkontexts und dem Umgang mit anderen Themen, erscheint mir das unglaubwürdig. Phasenweise kam Agnes über lange Strecken gar nicht vor, was ich auf Grund der räumlichen Situation unpassend finde. Daher empfinde ich die Darstellung des Themas Demenz als nicht gut gelungen.

Die poetische Erzählstimme von Jirka mochte ich sehr gerne. Gleichzeitig zart und brutal schmerzhaft entwickelt sich ein Sog, der mich das Buch in kürzester Zeit hat lesen lassen. Teilweise war ich überfordert davon, dass alle Familienmitglieder und andere Protagonisten meist beim Vornamen genannt werden und ohne Erklärung eingeführt werden. Außerdem sind die Erinnerungsschnipsel häufig so dicht in die Gegenwartserzählung eingewoben, dass mir teilweise nicht klar war, in welcher Zeit wir uns gerade befinden. Hier hätte ich mir eine optisch klarere Unterscheidbarkeit gewünscht.
Am Ende bleiben für mich zahlreiche Leerstellen und das unbefriedigende Gefühl, dass manche interessanten Themen nur angekratzt, aber nicht weiter erläutert wurden. Wie z.B. die Umstände des Todes der Mutter, ihre Vergangenheit als Flüchtling, wie die Familie zu dem landwirtschaftlichen Gut gekommen ist. Hier frage ich mich, ob man mit mehr Hintergrundwissen, von dem ich allerdings nicht glaube, dass es der Großteil der Leser*innen mitbringt, noch besser in die Erzählung vordringen könnte.

Das leuchtende Cover kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Themen des Romans eher schwer und schmerzhaft sind. Julja Linhof gelingt es, tiefschürfende Verletzungen und starke Emotionen mit einer ganz besonderen Erzählstimme zu transportieren; ruhig, melancholisch, bedrückend und, trotz allem, irgendwie leicht. Diese einfühlsame Art vermittelt auch die queere Komponente des Buchs sehr gelungen. Leser sollten kein Problem damit haben, dass viele Dinge nicht auserzählt werden und besser kein Happy End erwarten. Wer Triggerwarnungen befürwortet, würde sich hier vermutlich mehrere wünschen.