Heilungsprozess im Laufschritt

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dear_fearn Avatar

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Von diesem Buch bekommt man als Leser richtig Herzbluten. Man lernt die Ich-Erzählerin auf ihrer ersten Joggingrunde kennen und liest quasi ihre Gedanken. Sie ist Anfang 40, spielt Bratsche in einem kleinen Orchester und ihr Freund hat sich ungefähr ein Jahr zuvor nach langer Depression das Leben genommen. Durch das Joggen will sie eigentlich ihre wiederkehrenden, traurigen Gedanken abschütteln, quasi weglaufen. So ganz klappt das aber nicht. Stattdessen ist es eher eine intensive Trauerverarbeitung, mit Wut und allem drum und dran, ganz nach Lehrbuch.

Der Satzbau spiegelt durch sehr lange Sätze und Kommata das Laufen wieder, das Hecheln, das Seitenstechen, das wiederkehrende Ermahnen "Ich muss langsamer laufen", Rhythmus finden "Ein ein aus aus aus aus", die abdriftenden Gedanken, den Überdruss von Verlustgefühlen und Wut und Einsamkeit und Schuldgefühlen und Schmerz. Das wurde von der Autorin wirklich wunderbar umgesetzt. Immer wieder tauchen auch Beobachtungen auf, wie "Hat der Typ grade wirklich "Schöne Beine!" gerufen?", was alles sehr schön auflockert.

In ihren inneren Monologen spricht sie immer wieder zu ihrem verstorbenen Freund, ganz direkt, mit "du". Sie wertet so ihre Gefühle ihm gegenüber aus, ihre Erlebnisse und Unterstützung durch die Orchesterkollegen und ihre Freundin Rike samt Familie, ihre Therapiestunden bei Frau Mohl, ihre Fortschritte. Bis es nicht mehr "du" ist, sondern "er".

Es tut gut, einen so gesunden Heilungsprozess mit allen Hochs und Tiefs beobachten zu können. Das gibt Hoffnung, bringt Verständnis für die Krankheit Depression, aber auch wie schwer es ist, als Angehörige(r) oder sogar Zurückgelassene(r) damit umzugehen.