Vom Weglaufen zum Hinlaufen

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gkw Avatar

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Eine Frau hat ihren Lebenspartner verloren. Nun, ein Jahr später, kommt sie immer noch nicht damit zurecht.
Sie beginnt zu laufen, sie beginnt zu verarbeiten.
Beim Laufen wird sie begleitet von ihren Erinnerungen, von ihren Gedanken und Gefühlen, vom Kummer, von der Wut und von ihrer Liebe zur Musik.
Schritt für Schritt versucht sie in ein funktionierendes Leben zurück zu kommen.

Mein Kommentar
Der Titel und die Kurzbeschreibung haben mich zunächst einmal nicht sonderlich angesprochen (ich gebe zu, ich bin kein Läufer). Die Leseprobe habe ich dann wegen der Autorin geöffnet, von der ich "Der Pfau" kannte.
Ja, und dann sind wir losgelaufen, ich und das Buch. Zunächst nicht qualvoll, aber doch mühsam, und allmählich, Schritt für Schritt, haben wir unseren Rhythmus gefunden und immer mehr Spaß am Laufen entwickelt.

Das Buch ist im Prinzip ein 200 Seiten langer innerer Monolog, stream of consciousness, das hört sich schlimm an, ist es aber nicht. Das Thema Verlustbewältigung kommt häufig in der Literatur vor, ist also nicht außergewöhnlich. Aufbau und Verarbeitung dieses Themas sind aber hier nicht nur außergewöhnlich, sondern auch gelungen und sehr gut.
Im Laufrhythmus gehen der - leider - namenlosen Frau Gedanken durch den Kopf, sie führt Selbstgespräche, dabei springen die Gedanken - wie wir es von uns selber kennen - vom einem zum anderen.
Zunächst ist es dieser unfassbare Verlust, dann tauchen aber auch Erinnerungen auf, die zeigen, dass nicht alles perfekt war.

Passend zum Laufen sind es ellenlange Sätze, die sich im Rhythmus der Schritte ihren Weg nach draußen bahnen. Ich bin ein absoluter Gegner langer Sätze und habe nicht wenige Bücher wegen zu langer Sätze abgebrochen, aber hier hat das für mich wunderbar funktioniert.

Inhaltlich ist es natürlich kein Buch vom Laufen, es ist ein Buch vom Verlust und vom Schmerz. Es ist auch ein Buch von der Schuld, die man nicht hat und dennoch spürt.
Durch den inneren Monolog sind wir sehr dicht und nah, wir kennen die Gedanken und Gefühle der Frau, es ist intensiv und gut nachvollziehbar.
Und dann wird allmählich aus dem Weglaufen ein Hinlaufen.

Das Cover gefiel mir zunächst gar nicht (langweilig, dachte ich), inzwischen finde ich es wunderbar:
leicht, harmonische Farben, die Lauflinien werden gezeigt, die Wiederholungen, die Entwicklung, das Hin und her der Phasen und Gedanken - kurzum: perfekt.

Textstelle:

Ich trage keine Päckchen, sondern Löcher, meine Päckchen sind Dinge, die nicht da sind, Menschen, die nicht da sind, keine Kinder, kein Mann, die einen waren nie da, der andere ist nicht mehr da, nur ich, ich bin da und trage diese Löcher mit mir herum.


Das Buch eignet sich
- für alle Freunde des inneren Monologs
- für alle, für die die Themen Verlust und Schuld und Neubeginn interessant sind
- für alle, die einen Verlust zu bewältigen haben oder einfach wissen möchten, wie das sein kann

Information
Das Buch ist erschienen bei Kiepenheuer&Witsch, 200 Seiten.
Gelesen wurde ein Rezensionsexemplar, das ich bei Vorablesen gewonnen habe. Danke!

https://www.facebook.com/notes/so-viele-gute-b%C3%BCcher/isabel-bogdan-laufen/2429419060680667/