Traumhaftes Familienepos

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Nelio Biedermanns „Lázár“ ist ein Roman, der in seiner Form klassisch anmutet, dabei aber eine überraschende Frische entfaltet. Erzählt wird die Geschichte der ungarischen Adelsfamilie Lázár im 20. Jahrhundert, beginnend mit der Geburt von Lajos, der wie ein Symbol für den Umbruch einer ganzen Epoche wirkt. Im abgeschiedenen Waldschloss der Familie scheinen die alten Traditionen zunächst unerschütterlich, doch mit dem Ersten Weltkrieg, dem Ende des Habsburgerreiches und dem Aufstieg totalitärer Systeme bricht auch hier eine neue Zeit an.
Biedermann begleitet nicht nur das Schicksal des jungen Lajos, sondern lässt auch Eva, Pista und andere Familienmitglieder in den Vordergrund treten. Ihre Zweifel, Sehnsüchte und Verstrickungen, ihre Liebe und ihre Schuld weben sich zu einem dichten Geflecht, das die Leser durch Jahrzehnte begleitet. Dabei gelingt dem Autor das Kunststück, Historie und Intimität, Weitwinkel und Nahaufnahme, perfekt auszubalancieren. So liest man nicht nur einen Familienroman, sondern auch ein Porträt des 20. Jahrhunderts in seiner Schönheit und Brutalität.
Besonders beeindruckend ist, dass dieses Werk von einem sehr jungen Autor stammt. „Lázár“ wirkt erstaunlich reif, stilistisch ausgewogen, mit klarer Sprache und feiner Symbolik. Man spürt, dass Biedermann bereits das Wesen von Literatur erfasst hat – und zwar auf eine Art, wie sie vielen älteren Schriftstellern, die sich auf ihre Lebenserfahrung berufen, nicht gelingt. Denn Literatur lebt nicht allein von gelebten Jahrzehnten, sondern von Fantasie, Empfindsamkeit und dem Mut, Figuren in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit zu zeigen. Dieses Vorurteil, man könne erst ab fünfzig „wirklich schreiben“, also wenn man übervoll an Lebenserfahrung ist, widerlegt „Lázár“ eindrucksvoll.
Der Roman entfaltet einen Sog, dem man sich nur schwer entziehen kann. Ich habe es geliebt, den Charakteren durch ihre Höhen und Tiefen, ihre Hoffnungen und Niederlagen zu folgen. Manche ihrer Erfahrungen möchte man selbst nicht teilen, aber gerade darin liegt die Kraft dieses Romans: Er konfrontiert, er berührt, er lässt teilhaben an der Tragik und Schönheit einer Familie, die im Strudel der Geschichte nach Halt sucht.
„Lázár“ ist ein Familienepos im besten Sinne – fesselnd, berührend, phasenweise traumhaft. Es spielt souverän mit Historie und Fiktion und schenkt uns Figuren, die man so schnell nicht vergisst. Für mich ein großartiger, reifer Roman, der zeigt, dass große Literatur nicht vom Alter abhängt, sondern von Talent und innerer Vision.