Geht unter die Haut

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waterlilly Avatar

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Durch „Lebenssekunden“ habe ich eine für mich neue Autorin kennengelernt, von der ich auf jeden Fall noch weitere Bücher lesen werde. Katharina Fuchs hat einen tollen, bildhaften Schreibstil, der mich 400 Seiten lang gefesselt hat.
Die beiden Protagonistinnen sind zu Beginn des Romans gerade einmal 15 Jahre alt, also noch halbe Kinder. Trotzdem ist die Handlung sehr erwachsen und dramatisch. Insbesondere Christines Perspektive habe ich mit völliger Faszination und oft auch mit Entsetzen verfolgt. Anfang der 50er Jahre wird das junge Mädchen in der DDR zur Profiturnerin gedrillt. Ich war schockiert, als ich gelesen habe, wie der Coach dafür sorgte, dass Christine die gewünschten Säbelbeine bekommt. Die Trainingsalltag ist allgemein extrem hart und das Leben der Sportler hat mit Jugend wenig zu tun.
Die DDR war zu dieser Zeit gerade im Aufbau und der Fanatismus der Funktionäre und linientreuen Bürger ist harter Tobak.
Zur selben Zeit versucht die ebenfalls 15-jährige Angelika in Kassel ihren Weg zu finden. Eine klare Rollenteilung zwischen Mann und Frau war damals noch an der Tagesordnung. Naturwissenschaftliche Fächer galten als zu anspruchsvoll für Mädchen und bei der Berufswahl war genau definiert, welche Stellen für Frauen angemessen sind. Angelika träumt von einer Ausbildung zur Fotografin, blitzt bei ihrer ersten Bewerbung allerdings ab, da sie ein Mädchen ist. An diesem Beispiel erkennt man sehr stark, wie sich die Zeiten gewandelt haben, denn diese Entscheidung wäre heute unvorstellbar.
Natürlich kommt auch die erste Liebe in „Lebenssekunden“ vor, spielt hier allerdings keine übergeordnete Rolle. Katharina Fuchs legt den Fokus auf die politischen Entwicklungen, die ein wichtiges Stück deutsche Zeitgeschichte darstellen und schafft somit einen tiefgründigen Roman, der gleichzeitig zu jeder Zeit unterhaltsam ist.
Wir begleiten die Anfänge der DDR, die spezielle Situation im zwischen den Besatzungsmächten aufgeteilten Berlin bis zu den dramatischen Stunden im Jahr 1961 als die Grenze auch in Berlin in einer Nacht und Nebelaktion geschlossen wird.
Dieser Roman ging an vielen Stellen unter die Haut und wenn am Ende Willy Brandt zitiert wird, wie er sich in einer eindringlichen Rede an die Bürger Ostberlins wendet und erinnert: „Noch niemals konnten die Menschen auf die Dauer in Sklaverei gehalten werden“ stellt sich Gänsehaut ein, da wir heute wissen, wie lange es dauerte, bis die Grenzen wieder geöffnet wurden.