Kampf um ein freies Leben

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Katharina Fuchs entführt uns mit ihrem Buch "Lebenssekunden" nicht nur in die zweite Hälfte der 50er Jahre, sondern auch in die Leben von Angelika und Christine.
Angelika Stein ist das zweitjüngste von vier Kindern. Ihre Mutter ist sehr darauf bedacht, dass Angelika einen Schulabschluss und eine gute Ausbildung macht, damit sie nicht nur Hausfrau und Mutter wird. Auch Angelika schwebt keine Karriere als Hausfrau vor, am liebsten würde sie Fotografin werden. Doch das mit dem Schulabschluss ist nicht mehr so einfach, seitdem ihr Lyzeum mit einem Jungengymnasium zusammengelegt wurde. Die naturwissenschaftlichere Ausrichtung liegt ihr nicht und mit den Lehrkräften gerät sie auch häufiger aneinander, weshalb sie zuerst immer öfter unerlaubterweise dem Unterricht fernbleibt und schlussendlich vorzeitig von der Schule abgeht. Durch einige glückliche Begegnungen und einen schweren Schicksalsschlag kann sie tatsächlich eine Ausbildung als Fotografin beginnen, obwohl sie keinen Schulabschluss hat. Von Anfang an, seitdem sie sich von ihrem Ersparten ihre erste eigene Kamera gekauft hat, war ihr die Ernsthaftigkeit hinter dieser Kunst bewusst. Mit ihrer Kamera ist es ihr möglich "Lebenssekunden" festzuhalten und eine Perspektive auf die Welt zu haben, die sonst nur ihr älterer Bruder Peter hat. Nachdem Angelika anfängt in Berlin bei einer Zeitung zu arbeiten, wird ihr klar, dass diese Lebenssekunden auch historische Momente sind, die die Welt nur sehen kann, weil sie sie festgehalten hat - "Jeder Moment ist Ewigkeit". So veröffentlicht sie beispielsweise Bilder von der Entführung der ostdeutschen Leistungsturnerin Christine Mangold aus dem französischen Sektor, um auf die politischen Verhältnisse aufmerksam zu machen und Christine aus den Fängen der Stasi zu befreien.

Christine Mangold wächst zusammen mit ihrem älteren Bruder Roland, ihrer Mutter und deren Lebensgefährten auf. Ihr Vater ist in den Westen zurückgegangen und dort als Fotograf tätig. Er hat es nicht in der DDR ausgehalten, da er sich im Gegensatz zu Christines Mutter nicht dem System unterwerfen wollte. Christine ist auch nicht glücklich, da sie darauf gedrillt wird, die DDR bei den Olympischen Spielen zu vertreten. Das Turnen ist ohne Frage ihre Leidenschaft, doch als sie immer stärker kontrolliert wird, immer weiter hungern muss und sich durch den Trainingsdrill immer mehr Verletzungen zuzieht, realisiert sie, dass man ihr ihre Freiheit nimmt. Zusätzlich zu der Quälerei in dem Sportinternat, das sie besucht, werden auch ihre Briefe an einen jungen westdeutschen Turner abgefangen, in den sie sich verliebt hat und der sich als einziger für ihr Leben außerhalb ihrer Turnkarriere zu interessieren scheint. Als ihre Mutter endlich versteht, dass ihre Tochter nicht glücklich ist und auch keine Goldmedaille der Welt sie glücklich machen wird, versucht sie ihr zu helfen aus dem System zu entkommen. Doch Christine wird in der französischen Zone von Beamten der Stasi abgefangen und zurück in die DDR gebracht - ein Moment, den Angelika Stein mit ihrer Kamera festhält und veröffentlicht.

Ein Satz der mir im Gedächtnis geblieben ist und der für beide Frauen steht, ist folgender: "Er ahnte nicht, dass sie inzwischen immer häufiger von einem anderen Leben träumte…".

Das Cover ist schön und zeitgemäß, bildet aber auf keinen Fall Christine und Angelika ab. Stattdessen steht es sinnbildlich für die Freiheit junger Frauen. Eine Freiheit, die damals keine Selbstverständlichkeit war und auch leider heute noch nicht ist. Katharina Fuchs beschreibt detailliert die Schicksale der beiden jungen Frauen und berührt damit die Herzen der Leser:innen. Die Kapitel haben eine angenehme Länge und es ist immer klar ersichtlich aus wessen Perspektive gerade erzählt wird. Auf Seite 143 ist leider ein kleiner Fehler unterlaufen, Angelika wird fälschlicherweise als Christine bezeichnet - nicht weiter schlimm, aber etwas ärgerlich, da es der einzige Makel dieses Buches ist.