Wenn irgendwann jetzt wird: Von Lebenssekunden, die alles verändern

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gluexklaus Avatar

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„Obwohl ich das seit Jahrzehnten mache, hat dieser Moment für mich nichts von seiner Spannung eingebüßt.“ Angelika nickte, ohne den Blick von dem Negativ abzuwenden.
„Wenn sich die Mitteltöne aus dem braunen Film schälen, man eine Ahnung bekommt, ob es gelungen ist, ob es was Besonderes ist oder Durchschnitt, ob man eine Lebenssekunde festgehalten hat oder man nur Material verschwendet hat...“

Die fünfzehnjährige Angelika Stein wird 1956 ohne Abschluss von einem Kasseler Gymnasium verwiesen. Sie träumt nun davon, Fotografin zu werden. Für sie ist klar: „Fotografieren ist mehr als nur auf den Auslöser drücken.“ Doch es ist für Mädchen nicht so einfach, einen Ausbildungsplatz in der Branche zu finden. Dann passiert ein schreckliches Unglück, das Angelika an ihrem Berufswunsch zweifeln lässt.
Währenddessen hat die junge Kunstturnerin Christine Magold in Ostberlin ganz andere Vorstellungen von ihrer Zukunft. Ihr Trainer und ihre Mutter drängen sie dazu, extrem hart zu trainieren und alles zu geben, um an den Olympischen Spielen teilnehmen zu können. Christines Leben besteht nur noch aus Sport.
Über Bekannte sind Angelika und Christine indirekt miteinander verbunden. 1961 werden sie sich dann in einem unvergesslichen Moment auch persönlich kennenlernen.

Katharina Fuchs schreibt sehr klar, prägnant und angenehm, aber eher sachlich als emotional. Trotz des eher neutralen, beobachtenden Erzählstils gelingt es der Autorin auf beeindruckende Weise, ihre Leser zu erreichen, ja einzufangen. Ich fühlte mit den beiden Protagonistinnen, wurde von ihren Geschichten regelrecht mitgerissen.

Angelika geht eigentlich nur ihrer besten Freundin Irmgard zuliebe in die Schule, innerlich hat sie sich von der Schule längst verabschiedet. Als sie dann vom Direktor von der Schule „geworfen“ wird, ist sie fast erleichtert. Angelika ist eine Träumerin. Sie möchte wichtige Momente des Lebens festhalten, konservieren. Im Kopf kann sie das bereits. Denn alles, was sie einmal gesehen oder gelesen hat, vergisst sie nicht mehr. Angelika hat ein fotografisches Gedächtnis. Sie wird von anderen unterschätzt, so wie es Frauen generell damals häufig erging.
Christine in der DDR leidet. Sie wird nur auf ihre sportlichen Leistung reduziert, erträgt körperliche Schmerzen, Qualen, ja fast Folter, muss hungern, um als Aushängeschild für ihr Land in Wettkämpfen Erfolge zu erzielen. Was Christine selbst möchte, ist nicht wichtig. Ihre Träume für die Zukunft sehen ganz anders aus. Sie möchte raus aus dem Hamsterrad des ständigen Trainings, sehnt sich nach einer Liebe, die nicht sein darf: „Wann wird aus „Irgendwann“ ein „Jetzt“?, dachte sie. Eine feine Traurigkeit lag in dem Gedanken. „Irgendwann“ war ein seltsames Wort. Wenn man nicht aufpasste, konnte es leicht zu „Niemals“ werden.“

In Katharina Fuchs Roman wird Zeitgeschichte einmal aus westdeutscher, aus Angelikas Perspektive, einmal aus ostdeutscher, aus Christines Sicht dargestellt und das so anschaulich, als wäre man als Leser selbst dabei. Was im Geschichtsunterricht bloße Zahlen und ferne Ereignisse waren, wird hier lebendig, fast hautnah spürbar. „Lebenssekunden“ erzählt klar und mitreißend von zwei besonderen Frauenschicksalen und von beispielloser Solidarität in einer Zeit, die niemals vergessen werden sollte. „Jeder Moment ist Ewigkeit.“ Ein beindruckender Roman, der aufwühlt und dem ich mich nicht entziehen konnte. Sehr lesenswert!