Beeindruckende Lebensgeschichten haben und brauchen viele Seiten

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Den Protagonisten Roland, ein Nachkriegskind, begleiten wir Lesende durch sein Leben und erfahren vieles über die Personen rund um ihn. Während der Erzählung werden die Lebensgeschichten der jeweilig erwähnten Personen erzählt. Sü fügt sich Teilchen für Teilchen Rolands Leben vor unseren Augen zu etwas Kompletten zusammen. Immer wieder holen ihn seine Erfahrungen ein, als Jugendlicher im Internat und die dort entstehende Liaison mit seiner Klavierlehrerin. Dann überschattet das plötzliche Verschwinden seiner Ehefrau Alissa das junge Familienglück – Roland bleibt mit Lawrence, dem Baby, zurück. Langsam und Jahre später kristallisiert sich Alissas Grund
aus vielen Erzählfetzchen. Auch bei ihr stehen unverarbeitete Verletzungen in der Jugend im Vordergrund.

'Lektionen' ist ein sprachlich ausgefeiltes, für mich an keiner Stelle langweiliges Buch. Die Geschichte zieht sich über viele Jahrzehnte und verknüpft das Leben Rolands und der ihn umgebenden Personen mit verschiedenen geschichtlichen Ereignissen, z.B. Kubakrise, Tschernobyl, Widerstandsbewegung (Weiße Rose), Wiedervereinigung, Corona. Dabei beleuchtet er auch DDR-Schicksale anhand einer befreundeten Familie, die Roland einige Jahre lang im Osten besuchte und die die Willkür des Staates erleben mussten. Ungewöhnlich fand ich die Erzählstränge, die intime Erfahrungen Rolands schildern, die weit in seine frühe Jugend zurückreichen und immer wieder durch ihn reflektiert werden. Sehr beeindruckend fand ich Rolands starke Hinwendung zu seinem Sohn Lawrence, den er nach dem Verschwinden Alissas von Baby auf betreut. Ich finde, dass es Ian McEwan sehr gut gelungen ist, die verschiedenen Facetten und Lebensphasen Rolands zu beschreiben. Möglicherweise verbergen sich biografische Elemente des Autors in der Figur Rolands. Einzelne Schilderungen fand ich einerseits etwas lang, andererseits werden sie jedoch durch die bildhaften Lebenserzählungen zu den einzelnen Personen mehr als ausgeglichen.
Etwas Kritik muss ich leider zur Buchausführung üben: die Seiten sind sehr dünn und durchscheinend, das störte mich beim Lesen immer wieder; aber vielleicht ist das ja der aktuellen Ressourcenknappheit an Papier geschuldet.

Mein Fazit: 700 Seiten Lebensgeschichte erscheint zwar erstmal ziemlich viel, aber es kommt eben auf den Inhalt an. Der weitere Lebensweg einiger Figuren hat mich sogar so stark interessiert, dass ich darüber gerne noch mehr Seiten gelesen hätte. Chapeau, für dieses fulminante, perfekt geschriebene Lesewerk.