Die einen halten den Roman für ein Meisterwerk - die anderen nicht.

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wandablue Avatar

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Die Lebensdaten des Protagonisten Roland Baines stimmen mit denen des Autors exakt überein. Auch andere Ähnlichkeiten im familiären Beziehungsgeflecht finden sich in beider Leben wieder, zum Beispiel ein spät aufgetauchter Verwandter, eine gescheiterte Ehe sowie Schauplätze, die beide besucht haben und zu denen beide einen inneren Bezug haben. Dennoch ginge man in die Irre, würde man Ian McEwans Roman „Lektionen“ für eine Autobiografie halten. Das ist es nicht. Doch der Alter Ego McEwans geistert natürlich durch die Seiten.

Es ist so, als ob Roland Baines und Ian McEwans gemeinsam durch die relevanten historischen Ereignisse ihrer Lebensspanne spazierten, sozusagen Hand in Hand und sich dabei ausgiebig erinnern, nostalgisch nachsinnen und resümieren. Wie hat dieses und jenes Politikum mein Leben beeinflusst? 

Roland Baines wird durch die Kubakrise und durch die Furcht vor der Atomisierung der Welt seine Sexualität überbewusst; seine Angst davor treibt ihn in eine toxische erotische Beziehung. Der Berliner Mauerfall wiederum führt ihn zum Zeitpunkt des Mauerfalls nach Berlin und die Pandemie 2021 in die soziale Isolation. Er lebt die meiste Zeit in London. 

Von einigen Spezifikationen abgesehen ist Roland Baines ein reiner Zuschauer der Weltgeschichte. Genau wie wir, die wir dieselben Lebensdaten haben, wir, die Leser dieser Geschichte. Und wie Ian McEwan. Und wie McEwan ist er ein Künstler. Allerdings ein gebrochener, wenn nicht gescheiterter, er hatte das Zeug zum Konzertpianisten, doch er fristet seinen Lebensunterhalt als Barpianist. 

Der Kommentar: 
Roland Baines begeistert mich nicht. Er ist im Grunde ein Lebenskünstler, einer, im Fluss der Zeit Treibender. Er ist ein passiver Mensch, der keine Entscheidungen trifft, das Leben passiert ihm, er gestaltet es nicht. Und über alles hat Roland eine Meinung, was nicht falsch ist und die er in 40 Bänden Tagebuch festhält. 

Dem Roman fehlt jegliches Vorwärtsstreben. Er nimmt den Leser mit in eine Erinnerungsspirale, in einen Kokon aus Worten, (ausschweifend), er ist rückwärtsgewandt. Dieser fehlende Zug des Romans vermittelt Resignation. Stillstand. Die Zuschauerattitüde wird gehegt und gepflegt. Mitten drin die Figur Rolands, eine Figur, die reichlich umdichtet wird. An Einfällen mangelt es McEwan nicht. Schließlich ist Ian McEwan immer noch der Künstler Ian McEwan. Und der Autor weiß, was er seiner Zeit schuldet. Missbrauch, Alleinerziehender Vater, Eros.

Was dem Roman indessen abgeht, ist ein Gefühl von Dankbarkeit für das Leben - und Zufriedenheit damit stellt sich ebenfalls nur bedingt ein. Dafür kreist der Protagonist ausgiebig über ihm entgangene oder nicht ergriffene Possibilities. Don’t cry over spilled milk, ist meine Meinung dazu. 

Auffallend, dass selbst die tragischen Stationen von Rolands Leben in diesem Roman eher einem sanftes Wasserplätschern gleichen, als einem tosenden Wasserfall, der hinunter in die Schlucht stürzt. Ein nivelliertes Leben an dessen Ende folgerichtig das Verbrennen aller Aufzeichnungen steht. Also Nichtigkeit.

Alles Leben ist nichtig und eitel und Haschen nach Wind? Irgendwie schon. 

Bei McEwans Roman „Lektionen“ bleiben als Lebensertrag nur diese eine Einsicht, "alles ist sinnlos", symbolisiert im Verbrennen der Tagebücher, die Perspektive beziehungsweise Hoffnung auf die nächste Generation und – wenigstens – die einzige aktive Lebensleistung Rolands, die Aussöhnung mit den Menschen, die ihn verletzt oder sogar beschädigt haben. 

Fazit: „Lektionen“ ist nicht der beste Roman des Autors. Man kann ihn aufgrund seiner klugen Gesamtkombination trotzdem gut lesen und anhand der beiden, Roland und Ian, die jüngere Geschichte noch einmal Revue passieren lassen. Ein Nachhall wird allerdings ausbleiben. 

Kategorie: Anspruchsvoller Roman
Verlag: Diogenes, 2022