Die Lektionen der Jahre

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„Dies war die Erinnerung eines Schlaflosen, kein Traum. Wieder die Klavierstunde – der orangerot geflieste Boden, ein hohes Fenster und in dem kahlen Raum in der Nähe der Krankenstation ein neues Klavier.“
Schon mit diesem ersten Satz hat mich Ian McEwan an seinen neuen Roman gefesselt, der ein meisterliches Alterswerk darstellt. Der Leser begleitet Hauptfigur Roland Baines durch wesentliche Stationen seines Lebens, die gekonnt eingebunden werden in das jeweilige historische Zeitkolorit. Aufgewachsen ist Roland als Sohn eines Armeeoffiziers in Libyen. Mit 11 Jahren wird er von seinen Eltern getrennt, weil er ein englisches Internat besuchen soll. Die Einsamkeit dort setzt ihm zu, während er die Kameradschaft mit seinen Altersgenossen zu schätzen weiß. Im Dunst der Kuba-Krise lässt er sich auf eine grenzüberschreitende sexuelle Beziehung zu seiner deutlich älteren Klavierlehrerin Miriam Cornell ein, die ihn letztlich aus der Bahn wirft und nicht nur seinen Ausbildungsweg erheblich beeinträchtigt. Als Roland Jahre später von seiner Frau Alissa verlassen wird, beginnt er, Vergangenes zu reflektieren. Dabei überdenkt er nicht nur die eigenen Entscheidungen, sondern auch die Wege seiner Eltern und Schwiegereltern, die wiederum Alissa und ihn geprägt haben.

McEwan gestaltet ein höchst atmosphärisches Erzählpanorama durch die Zeiten. Nach einem Abstecher ins Nachkriegsdeutschland erleben wir mittelbar den Reaktorunfall von Tschernobyl („Eine Wolke der Selbsttäuschung legt sich über Europa.“ S. 105), die DDR-Diktatur, den Mauerfall, den Weg vom Brexit bis hin zur Corona-Pandemie. Die Handlung wird organisch in diesen historischen Kontext eingebunden. Im Mittelpunkt steht immer Roland, der als eher passiver Mensch durch sein Leben gleitet, der selten beständige Partnerschaften hat, aber stets versucht, seinem Sohn Lawrence ein fürsorglicher Vater zu sein. Im Lauf der Jahre entwickelt sich Roland dabei zu einem verantwortungsvollen, versöhnlichen und sympathischen Charakter, dem ich gerne gefolgt bin.

McEwan erzählt nicht linear. Es wechseln Geschehnisse der Gegenwart mit welchen der Vergangenheit. Hinzu kommen die umfangreichen Reflexionen des Protagonisten. Das alles ist jedoch so gekonnt konstruiert, dass man nie Schwierigkeiten hat, sich im Geschehen zu verorten. Man liest das Buch in einem Fluss, möchte es am liebsten nicht aus der Hand legen. Roland hat einiges an persönlichen Brüchen und Schicksalsschlägen zu verarbeiten. Der Autor hat sich dabei offensichtlich auch in der eigenen Biografie bedient, ein autofiktionales Werk ist dieser Roman jedoch nicht. Vielleicht beschreibt McEwan seinen Schreibprozess selbst: „Ich borge mir hier was und da. Ich erfinde. Ich schlachte mein eigenes Leben aus. Ich bediene mich überall, verändere, biege es mir so zurecht, wie ich es brauche.“ (S. 678)

Der Schreibstil ist im hohen Maß elegant und geschliffen, er besticht immer wieder durch wunderschöne Sätze, der Ausdruck ist klar und präzise. McEwan vermag es nicht nur, facettenreiche und glaubwürdige Charaktere zu gestalten, sondern auch deren Gefühlslagen und innere Zustände sensibel abzubilden. Manch bekanntes Rollenmuster wird von ihm umgekehrt. Der Autor überrascht ständig durch neue Handlungsfäden, die er zwar zeitweilig bei Seite legt, jedoch zum gegebenen Zeitpunkt erneut aufnimmt, um sie zum Ende zu führen. Leerstellen schließen sich. Das ist Schreibkunst par excellence! Die Übersetzung von Bernhard Robben lässt dabei keine Wünsche offen.

Es wird deutlich, dass die Vergangenheit immer in der Gegenwart fortwirkt, dass jede Entscheidung Konsequenzen hat. In seine „Lektionen“ lässt McEwan unglaublich viel Lebensklugheit und (Alters-)Weisheit einfließen. Anhand seines Protagonisten Roland behandelt der Autor die großen Fragen des Lebens. Auch wenn den Text eine latente Melancholie durchzieht, wird er niemals schwermütig. Das dürfte Rolands Naturell geschuldet sein, das versucht, aus allem das Beste zu machen. Er hegt keinen Hader, keinen Groll. Er kann auch Menschen verzeihen, die ihm übel mitgespielt haben. Er vermag, stets das Gute zu sehen. Dieses Verhalten kann man sich tatsächlich zum Vorbild nehmen. Allerdings geht es einher mit immensen Nehmerqualitäten, man könnte Roland auch als Stoiker bezeichnen. Er hat durchaus Parallelen zu William Stoner, einer meiner literarischen Lieblingsfiguren (aus „Stoner“ von John Williams).

Ich habe bereits einige Romane von Ian McEwan gelesen. Nach „Abbitte“ und „Kindeswohl“ hat mich dieser wieder restlos überzeugt. Ich bin sicher, dass er breite Leserschichten begeistern und zum modernen Klassiker mutieren wird. Das Buch eignet sich perfekt als Weihnachtsgeschenk für alle, die versiert geschriebene, epische Familienromane mögen.

Riesige Lese-Empfehlung!