Ein revolutionärer Roman, der meine eigene Weltanschauung unerwartet veränderte.

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adriana17 Avatar

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Ian McEwans Buch “Lektionen” handelt von Roland Bains, einem Mann mit viel Potential, dessen Lebensgeschichte dem Leser reale Einblicke in das Schicksal eines Menschen gewährt. Von früher Kindheit bis hin zu hohem Alter, wir folgen Roland durch sein Leben und erfahren mehr über den Alltag zu Zeiten, die wir heute als Vergangenheit oder gar „Geschichte“ bezeichnen.
McEwans Fähigkeit das menschliche Dasein in der vollen Pracht seiner Komplexität und Intensität darzustellen, beweist das unglaubliche Genie eines Schriftstellers. Beim Halten des Buchs fühlte ich mich, als ob ich ein ganzes Leben in der Hand hielt. Die Figuren schleichen sich einem ins Herz und man ist überrascht, wenn man merkt wie sehr man mit der Figur mitgefiebert hat oder wie viel Angst man hatte, um ihr Wohlbefinden. Roland Bains als Hauptfigur rückt oft in den Hintergrund und wird zu stillem Beobachter, weswegen er manchmal apathisch rüberkam. Er war jedoch immer ein guter Vater, liebenswerter Opa und weise. Miriam Cornell hat tiefe wunden in ihm hinterlassen, doch seine Reife im späteren Verlauf ihrer Geschichte hat mich sehr beeindruckt. Oftmals überkamen mich selbst Emotionen, als ich gewisse Passagen las, doch Roland traf immer die weisere Entscheidung und hielt seine Emotionen im Schach.
Seine erste Ehefrau zeigt die dunkle Seite des Feminismus und Leistungswahns. Sie spielte für mich eine große Rolle in der Änderung meiner Weltanschauung. Bücher, Erfolge, Erfindungen und Karriere sind im Gegensatz zur Familie wertlos. Die Leistungsgesellschaft lügt uns und vor allem auch Frauen an, denn das Lachen eines Kindes, dessen Vorderzähne rausgefallen sind und welches die Welt aus einem neuen Blickwinkel sieht, wird für mich für immer mehr Bedeuten als eine Medaille oder ein Literaturpreis.
Der Autor kennt sich gut mit der menschlichen Psyche aus und das sieht man anhand seiner Werke. Die Lektionen die in seinem gleichnamigen Roman auftauchen sind keine modernen Floskeln wie: „Sei du selbst!“, „Liebe dich selbst“, „Frauenpower“ oder „Männer sind dumm und Frauen haben alles im Leben verstanden.“ Die Lektionen, die McEwan in seinem Roman dem Leser ausrichten will, sind tiefgründiger und ähneln den Lektionen eines realen Menschen.
Die verschachtelten Sätze und der ständige Brauch von Parataxen, hat das Buch und das Tempo schmerzlich langsam gemacht. Mir fehlte oft eine gewisse Dynamik, doch die Geduld hat sich ausgezahlt, denn das Ende der Geschichte war alles was ich mir erwünscht hätte.
Das Buch darf man jedoch nicht nur auf die Lektionen und Figuren beschränken, den oftmals war es der Humor, die Anekdoten, die Wendepunkte und die historischen Ereignisse, die mich daran hinderten, das Buch wegzulegen.
Ich glaube, dass Menschen, die vor dem Jahr 2000 geboren wurden (ich gehöre leider nicht zu dieser Gruppe) dieses Buch noch mehr genießen würden, weil die ständigen Referenzen zu Büchern, Filmen, Liedern und Ereignissen einem älteren Leser viel mehr bedeuten würden. Ich kannte leider fast keine der Referenzen, was ich zwar schade fand, doch das hat mich nicht daran gehindert weiter zu recherchieren.
Das Buch empfehle ich jedem, der zu sehr von den eigenen Leistungen sich belastet fühlt. Jedem, der Psychologie, Geschichte und Fiktion verbunden in einem Buch lesen will. Jedem, der von der Vergänglichkeit des Lebens beängstigt ist. Jedem, der sich auf eine lebenslange Reise einlassen will und das menschliche Leben aus einer höheren Perspektive betrachten möchte.
An dieser Stelle muss ich mich beim Diogenes Verlag bedanken, der mir ein Rezensionsexemplar zugeschickt hat. Meine Begeisterung von diesem Verlag lässt schon seit mehr als einem Jahr nicht mehr nach. Die Qualität der Formatierung, der Buchbindung und des Covers lassen mich immer wieder staunen. Obwohl das Buch knapp über 700 Seiten hat, konnte ich das Buch immer noch angenehm in der Hand halten. Wo auch immer ich war, das Buch kam mit mir und mittlerweile habe ich so viele Klebenotizen und Kommentare drinnen, dass es für mich zu einem Unikat geworden ist.
Ich habe aus purem Interesse mir dutzende Interviews von Ian McEwan angeschaut und ich bin von diesem Mann und seiner Denkweise absolut begeistert. Seine Werke sind jetzt schon Klassiker geworden, die man mindestens einmal im Leben lesen müsste. Meine nächsten Lektüren werden auf jeden Fall „Nutshell“, „Solar“, „Machines like me“ und „On Chesil Beach“ sein.
Zu guter Letzt möchte ich deswegen einige meiner Lieblingszitate unten beifügen:
„Roland nach man, dass solche Schreie Übung für ein Leben voller Worte waren.“ (S.38f)
„Erinnerungen hatten eine lange Halbwertzeit.“ (S. 126)
„Vergesst nicht, dass ein jedes Volk diejenige Regierung verdient, die es erträgt.“ (S.135)
„Was für ein Glück, einfach nur zu sein, ein Bewusstsein zu haben, einen Verstand […]“ (S.407)
„Verzeihen oder ignorieren wir [des Künstlers] Zielstrebigkeit, deren Grausamkeit im Dienste ihrer Kunst? Und sind wir toleranter, je besser die Kunst ist?“ (S.532)
„Wo blieb die ehrliche Abrechnung der Schriftstellerin mit sich selbst?“ (S.545)
„Wenn Roland es mit gläubigen Menschen zu tun hatte, fühlte er sich immer irgendwie verpflichtet, sie vor seinem Unglauben zu schützen, der so umfassend war, dass ihn selbst jeder Atheist langweilte.“ (S.557)
„[…] er war seltsam zufrieden, dachte an nichts als die nächste Aufgabe, verloren in der Gegenwart, frei von Innenschau und Rückschau.“ (S.648)