Erinnerungen

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aischa Avatar

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In über 700 Seiten fächert der Brite Ian McEwan das Leben seines Protagonisten Roland auf, vom elfjährigen Internatsschüler Ende der 1950er Jahre bis zum Mittsiebzigjährigen in der Gegenwart. Dabei kommt, trotz einiger Wiederholungen, keine Langeweile auf, was nicht zuletzt daran liegt, dass McEwan äußerst kluge Reflexionen darüber anstellt, wie Erinnerung funktioniert, und Roland seine Jugend in späteren Lebensphasen immer wieder unterschiedlich bewertet und interpretiert. So auch den Missbrauch durch seine Klavierlehrerin, der zu einer sexuellen Obsession führt, die sein Sexualleben über Jahrzehnte hinweg prägt und von ihm erst spät als übergriffig erkannt wird.

Stets im Wandel ist auch, was er als erstrebenswert erachtet, was für ihn ein erfülltes Leben bedeutet. McEwan erzählt von verpassten Chancen, aber auch von solchen, die unerwartet spät im Leben doch noch ergriffen werden. Umrahmt von zeitgeschichtlicher Kulisse (Kubakrise, Thatcherismus, Fall der Berliner Mauer, Brexit und Covid-Pandemie) lässt sich die Story sowohl als Entwicklungs- als auch als Generationen- und Gesellschaftsroman lesen.

Und wer mit der Biografie des Autors vertraut ist, mag überdies Gefallen daran finden, autobiografische Anteile aus der Fiktion heraus zu arbeiten. Sprachlich ist der Roman solide, aber wenig aufregend, seine Stärken liegen vor allem darin, auch unbedeutende Nebenfiguren mit interessanten Handlungssträngen zu versehen und die Altersweisheit des Autors sehr unterhaltsam mit Zeit- und Lebensgeschichte zu verflechten.